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Nach der Wahl in GroßbritannienAb ins politische Zentrum

Die Queen hat das Parlament eröffnet und Johnsons Regierungserklärung verlesen. Der Premier verspricht ein prosperierendes Königreich.

Musste vortragen, was Boris Johnson verfasst hatte: Queen Elizabeth II. Foto: Leon Neal/reuters

Berlin taz | Ein „ambitioniertes Programm innenpolitischer Reformen, das die Prioritäten des Volkes umsetzt“ und „Maßnahmen, die sicherstellen, dass jeder Teil des Vereinigten Königreiches prosperiert“ – diese beiden zentralen Aussagen der Thronrede, mit der die Queen am Donnerstag die neue britische Legislaturperiode eröffnet hat, sind die des mit hoher Mehrheit wiedergewählten konservativen Premierministers Boris Johnson.

Der erste Satz zielt auf die von Labour zu den Konservativen übergelaufenen Wähler. Der zweite ist Londons Entgegnung auf das Unabhängigkeitsbegehren der Regionalregierung Schottlands, das die dortige Regionalpremierministerin Nicola Sturgeon am gleichen Tag mit einem ausführlichen Begründungsdokument bekräftigt hat.

Den Austritt aus der EU pünktlich zum 31. Januar 2020 erklärt die Regierung zu ihrer Priorität. Noch am Freitag soll das dafür vorgesehene Gesetz im Unterhaus abgestimmt werden. Offen ist bislang, ob dieses Gesetz die Ankündigung vom Montag aufnehmen wird, eine Verlängerung der mit der EU vereinbarten Übergangsfrist ausdrücklich auszuschließen.

Die Frist, in der alle EU-Regeln in Großbritannien erst einmal weiter gelten, läuft gemäß Brexit-Abkommen bis Ende 2020. Sie kann aber verlängert werden, wenn nicht rechtzeitig ein Abkommen über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU steht. Weder in der Thronrede noch im amtlichen Begleitdokument dazu wird das ausdrücklich erwähnt, wohl aber in Johnsons Vorwort.

Höherer Mindestlohn

Ausdrücklich legt sich die Regierung auf eine erstmalige gesetzliche Verankerung der mittelfristigen Finanzplanung für das staatliche Gesundheitswesen NHS fest, außerdem auf eine Anhebung des Mindestlohns, eine Erhöhung der Pro-Kopf-Ausstattung aller Schulen und massive Investitionen in die Infrastruktur. Die Rechte von Arbeitnehmern und Mietern sollen gestärkt, ein Recht auf Freistellung zur Familienpflege eingeführt werden.

Als Reaktion auf das Grenfell-Feuer soll die Bausicherheit verbessert werden. Die von Theresa May betriebene Stärkung von Opferrechten, insbesondere bei häuslicher Gewalt, wird wieder aufgenommen. Zielgrößen für Luftqualität und Klimaneutralität sollen gesetzlich verankert werden, ebenso ein Verbot des Plastikmüllexports und der meisten Lebendtiertransporte.

Mit diesen Ankündigungen, die man früher eher von Labour erwartet hätte, positioniert sich Johnson im politischen Zentrum. Für die konservative Basis gedacht sind Maßnahmen zur Verschärfung des Strafrechts sowie zum Ausbau der Polizei und ihrer Befugnisse sowie zur Stärkung der Streitkräfte.

Am absehbarsten sind die Reaktionen. Während konservative Kommentatoren die ambitioniertesten Reformen seit Jahrzehnten bejubeln, sieht die Labour-Opposition „nichts Neues“ und der Thatcher-treue neoliberale Think Tank „Institute of Economic Affairs“ warnt vor Staatsinterventionismus.

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5 Kommentare

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  • "Ab ins Zentrum" wäre die einzige Option von Parlament und Regierung, um Triumpf und Verblendung nach dem Sieg zu relativieren. Traue ich Johnson nicht zu, er hat ja gleich die wichtigsten EU-Standards aus Mays Austrittsvertrag rausgehauen und will dabei bleiben. Bleibe skeptisch: Die schäumende konservative front bench im Commons ähnelt jetzt auch visuell sehr der eines Wild-West Saloons.

  • Eine Verfassungsreform, die die Rechte von Parlament und Gerichten einschränken soll, Durch die Menschenrechtskonvention garantierte Menschenrechte sollen zugunsten der nationalen Sicherheit eingeschränkt werden. Die Finanzierung der BBC wird in Frage gestellt. Die Gefahr eines harten Brexits wird erhöht, indem man unrealistisch wenig Zeit einräumt, um einen Handelsvertrag mit der EU auszuhandeln. Wie der Taz-Johnson da einen Kurs der Mitte sehen kann, bleibt schleierhaft. Andere Journalisten erkannten eher einen Durchmarsch der Hardliner.

  • Corbyn wirkt.



    Sollten den relativ moderaten Ankündigungen in der Sozialpolitik Taten folgen, so hat der Linkskurs von Labour unter Jeremy Corbyn - zumindest taktisch - auch die Parteilinie der Tories angesteckt.



    Man sollte jedoch skeptisch genug bleiben, wie kreidehungrig Johnson bleibt.



    Wenn Labour die Konservativen in einen sozialen Überbietungswettbewerb zwingen könnte, war der Kurs von Corbyn offenbar doch nicht so verkehrt...

  • Eine treffendere Analyse hier:

    www.daserste.de/in...019-video-102.html

    • @Anna Minerva:

      Ich empfehle diesen link ebenfalls. Nein, die europäischen Nachbarn wurden von den Brexiteers schlicht zum Sündenbock für die britische Systemkrise erklärt. Nach neun Jahren Tories ist Johnson's GB ein Land des ungeregelten Neoliberalismus, in dem Behinderte inzwischen Zuständen ausgesetzt sind, die es bei uns in den 50er Jahren gab. Zustände, die sogar linke Nichtwähler dazu gebracht haben, taktisch die Liberalen zu wählen, um Johnsons Vormarsch zu verhindern. Selbst bei der FAZ würde kaum jemand so etwas als Politik der Mitte beschreiben.