Nach der Bundestagswahl: Adieu, Volksparteien
Die eierlegende Wollmilchsau der repräsentativen Demokratie hat ihre Existenzbedingungen verloren. Wir sollten uns daran gewöhnen.
A lle reden von Volksparteien. SPD und Union wollen es nach wie vor sein (ganz besonders die CSU macht daraus ein Mantra), die Grünen wollen es werden. Selbst die abgewatschte Linke reklamiert den Begriff für sich, zumindest in Ostdeutschland. Volkspartei zu sein, und wenn auch nur im Kleinen, das scheint der Goldstandard, an dem der Erfolg einer Partei bemessen wird. Ob der Begriff der Volkspartei wirklich ein normatives Ideal darstellt, gerät dabei nur selten in den Blick.
Ursprünglich bezeichnet der Begriff der Volkspartei ein Niedergangsszenario. Der SPD-Parteitheoretiker Eduard Bernstein fragte 1905 bang: „Wird die Sozialdemokratie Volkspartei?“ Für ihn war dieses Szenario alles andere als verheißungsvoll. Etabliert hat den Begriff der Volkspartei in den 1960er Jahren Otto Kirchheimer, einer der Gründungsväter der deutschen Politikwissenschaft.
Kennt man den Begriff, den Kirchheimer synonym zu dem der Volkspartei verwendet, dann ahnt man schon, dass auch er kein Fan des neuen Parteityps war: Für Kirchheimer galten Volksparteien als Allerweltsparteien, ideologisch verwässert und ihres organisatorischen Unterbaus beraubt. Den von ihm ursprünglich gewählten Begriff der „catch-all party“ (als Emigrant schrieb Kirchheimer auf Englisch) wendete er bezeichnenderweise zuerst auf die Nationale Front der DDR an.
Für Bernstein und Kirchheimer bezeichnete der Begriff der Volkspartei einen Etikettenschwindel, bei dem die zentralen Werte der Kernwählerschaft auf dem Altar des Appells an breitere Bevölkerungsschichten geopfert wurden. In der Tat ist der Spagat zwischen tiefer Verwurzelung in einem Kernmilieu und gleichzeitiger Attraktivität für weitere gesellschaftliche Gruppen eigentlich nicht zu schaffen.
lehrt Politikwissenschaft an der Leuphana Universität Lüneburg. Von ihm erschien zuletzt: „Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen“ (dtv, 2021).
Eigentlich. Uneigentlich gab es aber eine Zeit für diese eierlegende Wollmilchsau der repräsentativen Demokratie: den Kalten Krieg. In dessen bipolarer Weltordnung erwuchsen den Führungen von Christ- und Sozialdemokratie unverhofft zwei Drohungen, vermittels derer sie das verhindern konnten, was den Erfolg von Volksparteien unter Normalbedingungen konterkariert: die Abwendung der Kernwählerschaft hin zu Parteien, die weiterhin die reine Lehre vertreten und diese nicht für den Appell an die Massen verwässern. Diese Drohungen waren zum einen der Antikommunismus, mit dem Linksabweichler diszipliniert werden konnten. Die letzten Ausläufer dieses Disziplinierungsreflexes haben wir im gerade erst zu Ende gegangenen Wahlkampf erlebt. Zum anderen diente der Appell an den Verbleib im „westlichen Bündnis“ denjenigen als wirksame Drohung, die nach rechts erneut auf deutsche Sonderwege abbiegen wollten. Wer wollte schon mit „Moskau“ gemeinsame Sache machen oder den Schutzschirm der USA verlassen?
Diese beiden Drohungen waren der Nährboden, auf dem Volksparteien erst gedeihen konnten, und angesichts der deutschen Vergangenheit ging diese Saat besonders gut auf und blühte im europäischen Vergleich erstaunlich lange. Stabilität, das war der Slogan der Volksparteien, und noch Olaf Scholz (geschickter) und Armin Laschet (plumper) haben ihn im Wahlkampf permanent im Mund geführt.
Dennoch: Sogar im Kalten Krieg war das Unbehagen an den Allerwelts-, pardon: den Volksparteien greifbar. Den Grünen waren in ihren ersten Jahren die Volksparteien das, was heute der AfD die „Altparteien“ sind: die Folie, von der sie sich um jeden Preis – im Fall der Grünen als „Anti-Parteien-Partei“ – abzugrenzen versuchten. Zu einer Tugend wurde die volksparteitypische Quadratur des Kreises der Repräsentation eigentlich erst, als ihre Existenzbedingung zusehends entfiel.
Die Käseglocke des Kalten Krieges, die den politischen Wettbewerb zu deckeln vermochte, ist passé. Nichts verdeutlicht dies besser als die ideologisch vermeintlich „reineren“ Konkurrenten, die den Sozial- und Christdemokraten mittlerweile erwachsen sind. Erstere handelten sich im Zuge der Agenda-Reformen die gesamtdeutsche Linkspartei ein und Letztere im Zuge der Migrationskrise die AfD. Die Klimaliste wartet mutmaßlich schon auf das selbsterkorene Fanal, das ihnen die Grünen bieten. Willkommen also zurück in der alten neuen Normalität des volksparteifreien Parteiensystems.
All dies ließe sich mit einem wissenden Nicken zu den Akten nehmen, steckte dahinter nicht ein paradoxes, aber typisches und vor allem verhängnisvolles Muster: Normative Strahlkraft entfaltet immer das jeweils vorangegangene dominante Organisationsmodell politischer Parteien, das dann in der Gegenwart hervor gekramt wird, um „den“ Parteien Versäumnisse vorzuwerfen. Die so geäußerte Kritik fällt gern fundamental aus und nimmt billigend in Kauf, dass nicht nur einzelne Parteien, sondern die repräsentative Demokratie als solche dabei aufs Korn genommen wird. Kaum waren im frühen 20. Jahrhundert die ersten Massenparteien aufgekommen, wurden sie vom Soziologen Robert Michels als Oligarchien abgetan. Kirchheimer waren die Massenparteien die Folie, vor deren Hintergrund er die Krisendiagnose Volkspartei stellte.
Heute sind die Volksparteien selbst zum Ideal avanciert, das so vermeintlich positiv kontrastiert mit den gegenwärtigen sogenannten Kartellparteien. In diesem Begriff kulminieren die Vorwürfe von Michels (Abkopplung der Parteieliten von den Mitgliedern) und Kirchheimer (Abkopplung der Parteieliten von den Wählern). Politikwissenschaftlich hochumstritten, hat sich die Diagnose zum Kampfbegriff der AfD gemausert.
Wir sollten damit aufhören, stets das gerade abgelegte Organisationsmodell von Parteien anzuhimmeln und Parteien stattdessen an den gesellschaftlichen Realitäten messen, die sie widerspiegeln. Im Zweifelsfall kommt es darauf an, sie zu verändern. Aber bitte in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit.
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