Nach den Wahlen in Ostdeutschland: Zivilgesellschaft, was nun?
Diese Menschen haben engagiert für die Demokratie gekämpft, doch die Wahlerfolge der AfD konnten sie nicht verhindern. Wie geht es weiter?
„Nutzt endlich TikTok, liebe Politiker:innen!“
Susanne Siegert, 32, klärt bei TikTok und Instagram (@keine.erinnerungskultur) über Naziverbrechen auf. Bei TikTok folgen ihr knapp 200.000 Leute.
Wenn demokratische Politiker:innen TikTok die Schuld dafür geben, dass junge Menschen die AfD wählen, ärgert mich das. Es stimmt, junge Leute verbringen viel Zeit auf der Plattform und die AfD platziert dort ihre Inhalte besonders gut. Aber warum fangen Demokrat:innen nicht endlich an, die Plattform für sich zu nutzen? Wenn Olaf Scholz in einem TikTok-Video seine Aktentasche auspackt oder Markus Söder einen Döner isst, dann ist das peinlich. Das nimmt junge Leute nicht ernst.
Vor vier Jahren habe ich begonnen, in den sozialen Medien über Naziverbrechen aufzuklären. Ich beleuchte kleine Aspekte: Essensrationen im KZ, Abtreibungen im Lager oder die Geschichte einzelner Häftlinge, unterlege sie mit Recherche, Fotos und Originaldokumenten. In eineinhalb Minuten vermittle ich Wissen über den Holocaust und dafür bekomme ich viel positives Feedback. Mir ist klar, dass ich damit niemanden davon abbringe, die AfD zu wählen. Aber wenn ich es schaffe, Naziverbrechen auf TikTok zu behandeln, dann ist das auch mit politischen Inhalten möglich.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Politiker:innen könnten ihre Konzepte bei TikTok gut vermitteln. Dafür braucht es keine perfekten Videos. Wichtig ist, dass jedes Video eine Botschaft hat, die sich in einem Satz sagen lässt. Die Sprache muss einfach sein, aber nicht naiv. Wie man ein Video schneidet, ob es Musik braucht oder Untertitel, hat man schnell raus. Und: So ein Video steht nie für sich. Die Community will diskutieren, hat Fragen oder Kritik. Sich dem zu stellen, gehört auch dazu. Protokoll: Anne Fromm
„Wir müssen auch mit dem BSW reden“
Katharina König-Preuss ist Landtagsabgeordnete der Linken in Thüringen.
Es wäre ein Fehler, den Staat jetzt aus der Verantwortung zu lassen und alle Kapazitäten darauf zu verwenden, eigene Finanzstrukturen aufzubauen. Der Druck auf den Staat muss bleiben. Damit er weiter Demokratieprojekte fördert. Damit er gegen Beamte, Polizisten oder Staatsanwälte, die AfD-Mitglieder sind, vorgeht. Wir sollten den Staat immer wieder daran erinnern, wozu ihn das Grundgesetz verpflichtet: die Menschenwürde aller zu achten und zu schützen. Und das gilt in Ostdeutschland momentan eben leider nicht mehr überall.
Wie bekommen wir diesen Druck hin? Eigentlich ganz klassisch: Demos, Kundgebungen, Petitionen. Wenn Letzteres im Parlament eine Rolle spielen soll, dort besprochen werden soll, dann bitte über die Plattformen des Staates, also die der Landtage oder des Bundestags – alles andere wird nicht ernst genommen. Und was verrückterweise funktioniert, sind Briefe. Gezielt zuständige Abgeordnete anschreiben und nachhaken: Was ist in den Koalitionsgesprächen mit der Demokratieförderung? Was machen eure Leute da? Und bei aller völlig berechtigten Kritik an dieser Partei: Wir müssen auch mit dem BSW reden und versuchen, zu den vernünftigen Leuten dort Gesprächskanäle zu finden, um unsere Interessen zu übermitteln.
Und was den Initiativen hilft: Demosupport vor Ort und Geld. Veranstaltet bei euch Solipartys für die Arbeit der ostdeutschen Projekte. Fragt die Initiativen, was sie brauchen! Sie wissen es alle ganz genau. Protokoll: Konrad Litschko
„Demokratie retten geht nur mit Leuten vor Ort“
Michael Nattke ist Geschäftsführer des Kulturbüros Sachsen e. V.
In den Kommunen gibt es so tolle Engagierte und Projekte, die sich für die Demokratie reinhängen – statt da jetzt ganz neue Strategien zu entwerfen, ist es erst mal wichtig, diese Strukturen zu sichern. Nicht erst seit diesen Wahlen stehen sie gerade im ländlichen Raum unter enormem Druck, sind permanenten Anfeindungen ausgesetzt. Die Weiterfinanzierung dieser ohnehin unterfinanzierten Projekte muss jetzt oberste Priorität haben. In Sachsen wurden zuletzt bereits Projekte im Bereich Integration und Migration gestrichen, der Dachverband sächsischer Migrant*innenorganisationen musste Insolvenz anmelden, weil es neue Vorgaben gab. Deshalb appelliere ich nun eindringlich an die Bundesregierung, zumindest für die Projekte, die eine Bundesförderung erhalten, hier schnell klare Zusagen für eine Weiterfinanzierung zu erteilen.
Und ich warne davor, dass die Parteien, die jetzt in Thüringen, Sachsen und Brandenburg Regierungen verhandeln, die Demokratiearbeit zur Verhandlungsmasse machen oder gar zerschlagen. In den vergangenen Jahren sind vielfältige demokratische Projekte im Osten entstanden – wenn das alles wegfällt, wäre es eine Katastrophe für diese Regionen. Welche Anlaufstellen bleiben dann noch für Demokratiearbeit und Bildung? Wer steht Betroffenen von rechter Gewalt zur Seite? Wer Asylsuchenden? Fielen die zivilgesellschaftlichen Projekte weg, wäre einfach keiner mehr da. Demokratie retten – das geht aber nur mit Leuten vor Ort, die sich dauerhaft einbringen. Daneben müssen wir auch mehr Unabhängigkeit bei der Finanzierung unserer Projekte hinbekommen.
Derzeit werben wir für private Fördermitgliedschaften. Wir müssen zudem Spenden akquirieren, auch kleine Beträge helfen. Aufholbedarf gibt es bei privaten Stiftungen, auch hier wäre mehr Unterstützung sehr wichtig. Damit die Projekte nicht jedes Mal um ihre Existenz kämpfen müssen, wenn Mehrheitsverhältnisse kippen. Protokoll: Konrad Litschko
„Freiheit zu leben heißt Spaß zu haben“
Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, geboren in Ostberlin, Publizist und Historiker mit Schwerpunkt Aufarbeitung der SED-Diktatur. Von 1995 bis 1998 Mitglied der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ des Deutschen Bundestags.
Die Freiheitsrevolution von 1989 befreite mich – von meinen Ängsten, meinen Rücksichtnahmen, meinem Opportunismus, meiner Feigheit, meinen Kompromissen, meinem Mitläufertum, meiner Zaghaftigkeit. Ich wäre gern vor 1989 mutiger gewesen. Ich kann es nicht mehr ändern, dass ich ein Angsthase war.
Die Freiheitsrevolution lehrte mich etwas für den Rest meines Lebens, was ich in der Unfreiheit nicht schaffte: Freiheit auszuleben, freiheitlich zu leben, Tag für Tag. Freiheit hängt von mir, nicht von irgendjemand anderem ab. Freiheit heißt, sich einzumischen in die Angelegenheiten, die einen betreffen, und Verantwortung zu übernehmen. Nicht zu delegieren und auf andere zu warten, selbst das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen. Niederlagen einzukalkulieren und nicht als Niederlagen anzusehen, sondern als Lernerfolge.
1989 lehrte mich noch etwas, was uns heute vielleicht besonders fehlt: Freiheit zu leben heißt Spaß zu haben, Freude zu bereiten, zu lachen – über die Umstände, die Dummköpfe, über sich selbst. Die Revolution von 1989 richtete sich auch gegen spaßbefreite Funktionäre. Egal worum es geht: Spaß und Freude sollten dazugehören. Das lernte ich im Herbst 1989. Ilko-Sascha Kowalczuk
„Sacharbeit und Argumente reichen nicht“
Marco Wanderwitz, 48, Rechtsanwalt, ist seit 2002 Bundestagsabgeordneter der CDU aus dem sächsischen Erzgebirge. Er war bis 2021 Ostbeauftragter der Bundesregierung.
Wir versuchen seit Jahren, die AfD politisch kleinzukriegen, aber sie wird immer stärker. Wenn das so weitergeht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir im Osten einen AfD-Ministerpräsidenten haben, gewählt mit einer absoluten Mehrheit seiner Partei. Ich will das nicht erleben.
Was AfD-Politik bedeutet, erfahre ich hier in Sachsen jeden Tag: Da sollen andere Parlamentarier gejagt werden, man wird auf Veranstaltungen niedergeschrien. Es wird 24/7 gegen Migranten und Minderheiten gehetzt. In Brandenburg wurde auf der AfD-Wahlparty eine millionenfache Remigration gefordert – bei rund 44.000 vollziehbar ausreisepflichtigen Personen bundesweit. Die Partei will selbst Menschen, die in der dritten Generation in Deutschland leben, die Pässe wegnehmen. Die AfD wünscht sich eine „national befreite Zone“, sie ist rechtsextrem. Immer geht es gegen die liberale Demokratie. Einen Systemsprenger kann man aber nicht mit Sacharbeit und Argumenten stellen.
Ich sehe keinen anderen Weg mehr als ein AfD-Verbot. Das Grundgesetz hält ein Parteiverbot als Instrument der wehrhaften Demokratie aus historischen Gründen vor. Bei der NPD hatte das Bundesverfassungsgericht geurteilt, die Partei sei verfassungswidrig, aber zu machtarm, um die Demokratie zu gefährden. Bei der AfD ist das längst anders. Ich sehe auch nicht, dass ein Verbotsverfahren in Gänze scheitern würde. Zumindest ein Verbot der besonders extremistischen Landesverbände im Osten sowie der Jugendorganisation JA und/oder einen Ausschluss aus der staatlichen Parteienfinanzierung betrachte ich als sicher.
Nach einem AfD-Verbot würden wir deren Wähler kaum alle mal eben zurückholen. Aber es gäbe wieder die Chance, diese Menschen zu erreichen, wenn sie nicht ständig mit rechtsextremer Propaganda vollgepumpt werden. Die Demokratie bekäme eine Atempause. Protokoll: Konrad Litschko
„Die Menschen wollen Kontakt, sie wollen gesehen werden“
Lars Katzmarek (SPD), Bergmann und Rapper, holte bei den Landtagswahlen in Brandenburg mit 38 Prozent das Direktmandat für seine Partei und besiegte den AfD-Kandidaten.
Eigentlich war das Ding nicht zu schaffen. Im Wahlkreis 44 von Brandenburg, Randlage von Cottbus bis hin zur Bahnhofs- inklusive Unigegend, wollte ich gegen einen AfD-Mann antreten, der das Direktmandat 2019 holte. So sagten wir uns: „Gib Gummi“ – und das hieß: Haustürwahlkampf. Wir haben weit über 2.000 Haushalte abgeklappert, auch in die Platte haben wir uns getraut. Öfters ist uns die Tür vor der Nase zugeknallt worden, Hardcore und Hass, aber noch öfter hörte man mir zu. Hab mich natürlich immer vorgestellt und gesagt, wofür wir stehen. Meine Partei, die SPD, hab ich meist erst am Ende erwähnt. Wir wollten sicher sein, dass es auf die Person ankommen wird.
Ich glaube, es wurde sehr positiv registriert, dass ich eine Berufsausbildung habe und aus dem Bergbau komme, also die Lebensgefühle, auch die beruflichen, kenne. Mein Bonus war bestimmt, jung zu sein – ich bin Jahrgang 1992 – und als Rapper aus der Lausitz etwas bekannter zu sein. Am Ende erntete ich auch die Stimmen jener, die den Grünen und Linken zuneigten. Dass wir am Ende nicht nur einen Hauch vor dem AfD-Mann lagen, mag auch damit zu tun haben, dass ich wie einer aus der Gegend rüberkomme.
Ich bin nicht vom Politikertypus, der die Leute unkonkret zuquatscht. Bei den Älteren hat es geholfen, dass ich ihre Lebensverhältnisse kenne, sie sich in mir wiedererkennen konnten. Wir haben gelernt: Man muss unbedingt ernst nehmen, dass die Menschen Kontakt wollen, dass sie gesehen werden wollen, dass zählen wird, was sie sagen. Klingt wie ein Klischee, aber: immer auf Augenhöhe und mit Respekt. Protokoll: Jan Feddersen
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