Nach den Anschlägen auf das „Bataclan“: Schüsse auf Laster und Leidenschaften
Die Musikwelt trauert um die Toten des Bataclan. Ein primär antisemitisches Tatmotiv halten viele inzwischen für unwahrscheinlich.
Derweil wird weiter diskutiert, warum die Attentäter ausgerechnet diesen Club angriffen und ob die Tat einen direkten antisemitischen Hintergrund hatte. Denn der Club war jahrelang unter jüdischer Leitung, mit den Eagles Of Death Metal spielte an dem Abend eine Band, die zuletzt israelfreundlich in Erscheinung trat.
Richard Odier ist Vizepräsident des Bureau de Vigilance Contre l’Antisémitisme, des französischen Amts zur Bekämpfung von Antisemitismus. Er glaubt nicht an einen primär antisemitischen Hintergrund: „In erster Linie haben sie die Freiheit, die Kultur, die Demokratie angegriffen“, erklärt er im Interview mit der taz, „so gesehen war es ein naheliegendes, ein einfaches Ziel.“
Ein naheliegendes, einfaches Ziel
Odier, der auch Präsident des französischen Simon-Wiesenthal-Zentrums ist, fügt hinzu: „Sicher sind die Attentäter auch Antisemiten, aber sie richten sich genauso gegen Homosexuelle, gegen Frauen oder gegen demokratische Strukturen.“
Das Bataclan, ein legendärer Konzertort im 11. Arrondissement, in dem schon Velvet Underground, The Clash, The Cure oder die Ramones gespielt haben, war bereits mehrmals bedroht worden – zum Beispiel von propalästinensischen Gruppen im Jahr 2008, weil die seinerzeit noch von den jüdischen Brüdern Pascal und Joël Laloux betriebene Location Galas zugunsten des israelischen Grenzschutzes veranstaltete.
Auch Attentatspläne gab es in der Vergangenheit. Die ehemaligen Betreiber waren in der jüdischen Community in Paris bestens bekannt und vernetzt, Pascal Laloux war auch Präsident des Fußballklubs Maccabi.
Tempel des Hedonismus
Dass die einstigen Bedrohungen und jetzigen Angriffe unterschiedliche Hintergründe haben, sagt etwa auch Marc Hecker vom französischen Institut für internationale Beziehungen der New York Times. Es könne einfach Zufall gewesen sein, dass die Terroristen das Bataclan zum Anschlagsziel machten. Eine Verbindung zwischen propalästinensischen Aktivisten und dem Anschlag sieht Hecker nicht.
Im noch nicht verifizierten, mutmaßlichen Bekennerschreiben des IS klingt an, das Bataclan sei als Tempel des Hedonismus angegriffen worden – es sei ein Ort der „lasterhaften Party der Prostitution"(“profligate prostitution party“). Dass das Bataclan ein sehr offener Ort war, an dem etwa auch muslimische Rapper auftraten, legt nahe, dass der Beschuss des Clubs ein symbolischer Angriff auf die westliche Unterhaltungs- und Populärkultur generell war.
Ungelegen kam es den Attentätern dabei sicher nicht, dass sie auch ins Herz eines Viertels trafen, in dem es viele jüdisch geprägte Cafés und Restaurants gibt. Der jüdische Inhaber des attackierten Cafés La Belle Equipe verlor seine Frau bei den Angriffen – sie war tunesische Muslimin.
Zahlreiche Musiker, die im Bataclan aufgetreten waren, brachten ihre Fassungslosigkeit zum Ausdruck: „Es ist schwer zu verstehen, wie das Bataclan von einem Ort des Vergnügens, wie ich ihn kannte zu … so etwas werden konnte“, schrieb etwa Alex Kapranos von der britischen Band Franz Ferdinand.
Mit dem britischen Merchandise-Mann Nick Alexander ist mindestens eine den Eagles Of Death Metal nahestehende Person von den Schüssen getötet worden. Alexander, der 36-jährig starb, war ein in der Rock- und Popszene beliebter und bekannter Tourbegleiter, der unter anderem schon mit den Black Keys oder MGMT auf Tour war. Derweil haben britische Musikfans dazu aufgerufen, den Song „Save a Prayer“ von den Eagles Of Death Metal in den Charts nach oben zu bringen – im Übrigen eine Coverversion des Duran Duran-Hits von 1982. Zumindest in den iTunes-Rock-Charts in Frankreich, Deutschland und Großbritannien steht die Band schon auf Platz 1.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen