Nach dem Urteil im NSU-Prozess: Der Vorhang zu, die Fragen offen
Nach fünf Jahren ist der NSU-Prozess vorbei – und Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt. Doch es gibt noch sieben wichtige offene Fragen.
1. Das Oberlandesgericht München hat Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt, vier NSU-Helfer zu Haftstrafen von zweieinhalb bis zehn Jahren. Ist der NSU damit abgeurteilt?
So jedenfalls scheint es die Bundesanwaltschaft zu sehen. Ihre Anklage in München definierte den NSU als Trio aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Dazu kamen vier Helfer, die den Untergetauchten Waffen und Wohnungen besorgten oder Papiere überließen: Ralf Wohlleben, Carsten S., Holger G. und André E. Die Anwälte der NSU-Opfer sehen dagegen weit mehr Helfer. Und der NSU sprach in seinem Bekennervideo selbst von einem „Netzwerk von Kameraden“.
Dafür spricht einiges. So ist bis heute ungeklärt, woher der NSU all seine Waffen hatte. 20 Pistolen und Gewehre fanden Ermittler im von Zschäpe angezündeten NSU-Unterschlupf in Zwickau. Nur die Herkunft einer einzigen Waffe ist geklärt: der Ceska 83, mit der die neun Migranten erschossen wurden. Sie erreichte das Trio über Ralf Wohlleben und Carsten S. Wer überbrachte die anderen?
Oder die Tatorte des NSU. Einige waren so abgelegen, dass sie Ortsfremde kaum finden konnten. „Getränkeshop Gerd Simon“ stand in Köln an dem Laden, in dem der NSU 2001 eine Bombe ablegte. Woher wussten die Thüringer, dass er von einem Deutschiraner betrieben wurde? Gab es Tippgeber? Und als 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen wurde, berichteten mehrere Zeugen von bis zu sechs Tätern am Tatort. Wer waren sie?
Überhaupt fanden sich an den Tatorten des NSU nirgends DNA-Spuren von Mundlos und Böhnhardt – dafür aber bis heute nicht zuzuordnende DNA. Wem gehört sie?
„Ich bin überzeugt, dass es weitere Mittäter gab“, sagt Clemens Binninger, CDU, einst Vorsitzender des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Tatsächlich ermittelt auch die Bundesanwaltschaft noch gegen neun Personen, die dem untergetauchten Trio Wohnungen, Papiere oder Waffen besorgt haben sollen.
Eine davon saß bei der Urteilsverkündung auch im Gericht: Susann E., Ehefrau des verurteilten André E. Ob es für sie und die anderen acht noch Anklagen gibt, ist offen. Man wolle vorerst abwarten, ob sich noch Neues aus dem NSU-Prozess ergebe, hieß es stets aus der Bundesanwaltschaft.
Nun versichert Generalbundesanwalt Peter Frank: „Wir schließen die Akte NSU nicht.“ Über die noch offenen Verfahren soll in den nächsten Monaten entschieden werden. Aber, so heißt es: Wenn schon der NSU-Vertraute André E. einen Teilfreispruch erhält, wird ein Tatnachweis für weitere Helfer nicht leichter. Schlechtestenfalls könnten alle weiteren Unterstützer straffrei davonkommen.
2. Die Anklage in München rechnete dem NSU zehn Morde, zwei Anschläge und 15 Raubüberfälle zu. Gab es weitere Taten?
Es war der 8. Prozesstag in München, als der Mitangeklagte Carsten S. ein überraschendes Geständnis machte: Es habe noch einen dritten Anschlag des NSU gegeben, mit einem Sprengsatz, versteckt in einer Taschenlampe. Tatsächlich gab es diesen Anschlag, 1999, in einer Nürnberger Kneipe. Der türkische Mitarbeiter erlitt dabei Schnittwunden am Körper. Von selbst hatte das Bundeskriminalamt diesen NSU-Anschlag indes nicht ermittelt. Gibt es also noch mehr Taten?
Die Untergetauchten hatten jedenfalls viele weitere mögliche Anschlagsorte recherchiert. Mehr als 10.000 Namen und Adressen fanden sich in einer Datenbank, die Ermittler im Zwickauer Unterschlupf fanden – darunter Abgeordnetenbüros von DKP bis CSU, türkische Kulturvereine, Flüchtlingseinrichtungen. Nach dem NSU-Auffliegen überprüfte das BKA auch deshalb nochmals 3.300 ungeklärte Tötungsdelikte auf einen Bezug zu der Terrorgruppe. Ergebnis: nichts zu finden.
Das ZDF verwies zuletzt aber auf den Mord an Fefzi U. vor einer Moschee in Rheda-Wiedenbrück. Der Deutschtürke wurde 2006 erschossen, die Tat ist bis heute ungeklärt. Ein Modell der Pistole und die Art Munition, die verwendet wurden, fand sich auch im NSU-Unterschlupf. Und die Moschee in Rheda-Wiedenbrück stand auf der 10.000er-Liste. Aus dem Bundesjustizministerium hieß es indes zuletzt: Man habe keine Hinweise, dass NSU-Waffen bei anderen Straftaten in Deutschland verwendet wurden.
3. Warum starb die Polizistin Michèle Kiesewetter?
Neun Morde verübte der NSU von 2000 bis 2006, allesamt an Migranten. Dann stoppte die Serie. Ein Jahr später folgte ein weiterer Mord, der letzte: an der Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Ihr Kollege Martin A. überlebte schwer verletzt. Warum erfolgte der Angriff? Die Uwes hätten neue Waffen gebraucht, sagte Beate Zschäpe im NSU-Prozess.
Das Gericht hält das für Quatsch: Das Trio hatte ja genug Waffen. Vielmehr wollte der NSU Kiesewetter als Repräsentantin des Staates töten. So wird es auch im NSU-Bekennervideo dargestellt: Dort wird nach der zynischen Präsentation der Migranten-Morde das Bild der Polizistin eingeblendet, mit dem Verweis „Paulchens neue Streiche“.
Aber: Michèle Kiesewetter stammte just aus Thüringen. Und ihr Patenonkel, auch Polizist, stellte direkt nach dem Mord einen Bezug zu den „Türkenmorden“ her – obwohl dieser erst Jahre später offenbar wurde. Zufall? Oder gab es doch eine Verbindung zwischen der Polizistin und den Terroristen? Offen auch: Warum stoppte die Mordserie endgültig nach dem Tod von Kiesewetter? Wurde der Verfolgungsdruck zu hoch? Gab es andere Gründe?
4. Wusste der Verfassungsschutz wirklich so wenig über den NSU-Terror?
In seinem Urteil erwähnte Richter Manfred Götzl die V-Leute des Verfassungsschutzes mit keinem Wort. Dabei sollen sich rund 30 Spitzel im erweiterten Umfeld des untergetauchten Trios getummelt haben. Einer überbrachte dem Trio Spenden, andere wurden nach Waffen gefragt. Der Verfassungsschutz will dennoch nichts vom Aufenthaltsort und den Terrortaten des NSU gewusst haben.
Dubios bleibt etwa die Rolle Ralf Marschners, einst Szenegröße in Zwickau, wo die Untergetauchten lebten – und V-Mann. Zeugen wollen Uwe Mundlos in Marschners Baufirma und Zschäpe in dessen Kleidungsladen gesehen haben. Marschner streitet alles ab und lebt heute unbehelligt in der Schweiz.
Oder Stephan L., einst Deutschlandchef des rechtsextremen Netzwerkes „Blood & Honor“ – und ebenfalls V-Mann. Aus dem Neonazi-Netzwerk kam gleich eine ganze Reihe von Helfern des Trios. Als Zeuge in München gab sich Stephan L. ahnungslos. Seine Enttarnung als Spitzel erfolgte erst später – und zwar just nach Ende des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag.
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5. Was stand in den geschredderten Akten des Verfassungsschutzes?
Es war der 11. November 2011, als im Bundesamt für Verfassungsschutz die Akten von sieben Thüringer V-Leuten durch den Schredder liefen. An jenem Tag, an dem der NSU öffentlich bekannt wurde. Was in den Akten stand, ist bis heute ungeklärt. Der Verfassungsschützer Axel M., der das Schreddern anordnete, behauptet, die Untergetauchten seien dort nicht vorgekommen. Aber er gestand inzwischen, dass die Aktion absichtlich geschah – damit niemand frage, warum sein Amt trotz so vieler Spitzel von nichts gewusst habe.
Ermittlungen gegen M. wurden eingestellt, aber nur gegen eine Geldauflage von 3.000 Euro. Damit ist er der Einzige beim Verfassungsschutz, der bisher von behördlicher Seite für das Versagen im NSU-Komplex eine Strafe erhielt.
Vielen Hinterbliebenen der Opfer reicht das nicht: Sie fordern Ermittlungen gegen andere Verfassungsschützer und Polizisten, die bei der NSU-Terrorserie versagten. „Auch der Staat gehört auf die Anklagebank“, sagt Mehmet Daimagüler, Anwalt zweier Opferfamilien. Er und andere fordern, das Löschmoratorium für Akten mit NSU-Bezug zu verlängern. Sonst liefen nun nach dem Urteil demnächst wohl wieder die Schredder an.
6. Warum war ein Verfassungsschützer am NSU-Tatort in Kassel?
Als am 6. April 2006 Halit Yozgat in seinem Kasseler Internetcafé vom NSU erschossen wurde, saß dort auch ein Verfassungsschützer: Andreas Temme. Reiner Zufall, behauptet der bis heute. Er habe nur auf einer Flirtseite gechattet und vom Mord nichts mitbekommen. Im NSU-Prozess musste Temme sechsmal vorsprechen – jedes Mal wiederholte er seine Version.
Ermittler bezweifeln, dass Temme nichts bemerkte. Ein Londoner Forscherteam baute zuletzt den Tatort nach und rekonstruierte den Mord. Ergebnis: Temme müsse die Schüsse gehört und die Leiche gesehen haben. Offen auch: Worüber telefonierte der Geheimdienstler kurz vor dem Mord länger mit einem rechten V-Mann? Beide wollen sich heute an das Gespräch nicht mehr erinnern.
Ismail Yozgat, der Vater von Halit, sagte nach dem Urteil, er erkenne dieses nicht an. Obwohl von ihm mehrmals gefordert, habe das Gericht keine Tatortbegehung in Kassel durchgeführt. Temme müsse der Lüge überführt werden. Misstrauen weckt auch, dass der hessische Verfassungsschutz einen internen Bericht zu möglichen Fehlern im NSU-Komplex mit einer erstaunlichen Sperrfrist belegte: 120 Jahre. Man wolle nur Informanten schützen, behauptet das Landesamt. Die Familie Yozgat hat auch daran ihre Zweifel.
7. Hätte der Staat die Terrorserie nicht doch verhindern können?
Als Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt 1998 untertauchten – erst von Jena nach Chemnitz, dann nach Zwickau –, waren ihnen Polizei und Verfassungsschutz dicht auf den Fersen. Sie hörten Kontaktleute des Trios ab, erhielten Hinweise von Neonazis. Auch bewegte sich das Trio in Chemnitz noch ganz offen in der Szene. Eine Festnahme erfolgte dennoch nicht. Warum? Weil man Hinweisgeber aus der rechten Szene nicht gefährden wollte? Eine frühe Festnahme jedenfalls hätte die Terrorserie verhindern können.
Als die Morde geschahen, ermittelte die Polizei stets gegen die migrantischen Hinterbliebenen und ihre Community. Ein rechtes Motiv wurde abgetan. Amnesty International fordert nun eine „lange überfällige“ Untersuchung, „inwieweit institutioneller Rassismus in den Behörden eine bessere Aufklärung des NSU-Komplexes verhindert hat“.
Mehrere Familien von NSU-Mordopfern klagen bereits gegen die Bundesrepublik: Sie wollen Schadenersatz für die Fehler bei der Fahndung – und ein Eingeständnis, dass der Staat beim NSU versagt hat. Die Klage ist auch ein Versuch, doch noch an Antworten zu kommen.
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