Nach dem Terror in Hanau: Alle Akten auf den Tisch
Die hessischen Grünen müssen anfangen, ihre Beteiligung an der Landesregierung dafür zu nutzen, rechtsextreme Strukturen aufzudecken.
Auch die in Hessen mitregierenden Grünen feierten am Dienstag „die beste Kriminalstatistik aller Zeiten“. Weniger Straftaten, eine höhere Aufklärungsquote – die grüne Abgeordnete Eva Goldbach fand nur lobende Worte für den Minister. „Schlecht für die Opposition!“, höhnte sie und wurde mit demonstrativem Beifall der Regierungsparteien belohnt.
Dass sich die Zahl der rechtsextremen Straftaten binnen Jahresfrist fast verdoppelt hatte? Dass rechte Umtriebe in der hessischen Polizei seit Monaten für Schlagzeilen sorgen? Es sei gleichwohl „ein erfolgreicher Start in ein sicheres Jahrzehnt“, so die Bilanz des Ministers.
„Abgekühlte“ Neonazis?
Einmal mehr gab es in dieser Debatte keine Antworten auf die bohrenden Fragen der Opposition nach möglichen Versäumnissen der Sicherheitsbehörden vor dem Mord an ihrem früheren CDU-Landtagskollegen, dem Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Ein einschlägig vorbestrafter Neonazi konnte vom Radar der Behörden verschwinden? Als „abgekühlt“ eingestuft, obwohl ihn doch der scheidende Präsident des Verfassungsschutzes „brandgefährlich“ genannt hatte?
Am Tatort in Hanau bekannte die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, die Grüne Claudia Roth: „Wir haben ein Problem mit Rassismus und Rechtsterrorismus; das große Problem ist kleingeredet worden!“ An ihrer Seite gedachten grüne Landtagsabgeordnete der Opfer. Sie haben sich inzwischen dazu bekannt, dass es ein Fehler war, sich bei der Abstimmung über die Einsetzung eines NSU-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag aus Rücksicht auf den neuen Koalitionspartner, die CDU, enthalten zu haben.
Doch auch in sechs Regierungsjahren haben die Grünen nicht dafür gesorgt, dass Parlamentarier und Öffentlichkeit Zugang zu allen NSU-Akten bekamen. Die Geheimhaltungsfrist für ein zentrales Dossier wurde von 120 auf 30 Jahre herabgesetzt. „Die Grünen im Bund haben viel für die Aufklärung des NSU-Terrors getan“, sagte nach den Morden von Hanau Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess, „doch die hessischen Grünen haben ein Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit.“
Alle Akten gehören auf den Tisch, ungeschwärzt, sodass damit gearbeitet werden kann. Es muss ohne Rücksicht auf handelnde Personen geklärt werden, wie der mutmaßliche Lübcke-Mörder vom Schirm der Behörden verschwinden konnte. Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags, den es geben wird, darf nicht im taktischen Geplänkel zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien untergehen. Dafür könnten die erstarkten Grünen sorgen.
Den Geldhahn zudrehen
Der Mörder von Hanau hatte vor seiner Tat im Internet krude Manifeste und Drohungen abgesetzt. Es ist zu klären, wie Sicherheitsbehörden schneller auf solche Zeichen reagieren können. Das hessische Kultusministerium sieht keine Handhabe, den AfD-Politiker Björn Höcke aus dem Staatsdienst zu entlassen. Dass dieser Faschist im Zweifelsfall in den hessischen Schuldienst zurückkehren und Kinder unterrichten darf, ist unerträglich.
Die Finanzbehörden sind dabei, demokratischen Organisationen der Zivilgesellschaft das Wasser abzugraben, indem sie ihnen die Gemeinnützigkeit aberkennen. Gleichzeitig streicht die AfD aus der staatlichen Parteienfinanzierung dreistellige Millionenbeträge ein. „Der Staat ernährt Verfassungsfeinde mit unseren Steuern“, formuliert Rechtsanwalt Daimagüler. Das Bundesverfassungsgericht hat Wege aufgezeichnet, wie man verfassungsfeindlichen Parteien den Geldhahn zudrehen kann. Notfalls müssen Gesetze geändert werden.
Die Grünen sollten mit dem Rückenwind guter Ergebnisse bei Wahlen und Umfragen Druck machen. „Den Worten müssen Taten folgen!“, so die Forderung Serpil Temiz’, der Mutter des ermordeten Ferhat Unvar, auf dem Friedhof in Hanau.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?