Nach dem Skandal-Video von Sylt: Der Norden grölt rassistisch
Aus Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern werden weitere Fälle rassistischer Gesänge auf Partys bekannt.
Bereits am Freitag war ein ähnlicher Fall bei einem Schützenfest im Löningen im Kreis Cloppenburg bekannt geworden. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie Besucher*innen des Schützenfestes bei ausgelassener Stimmung die Zeilen „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ mitgrölen. Dies ereignete sich bereits am Pfingstmontag, also vor Veröffentlichung des Sylt-Videos.
Unter Rechten ist der Song „L'amour tojours“ von Gigi D'Agostino mit rassistisch umgedichtetem Text seit Monaten eine Chiffre für ihre Ideologie. Online ist es zu einem Trend geworden, den Song in verschiedenen Varianten hochzuladen. Meist ohne die rassistischen Parolen, sondern in der Originalversion. Dafür platzieren die User*innen Hinweise, etwa im Hintergrund des vom Nutzer „Aryan Classic“ hochgeladenen Videos, eine römische Statue. Entsprechende Videos werden im Netz hunderttausendmal geklickt. Darunter listen sich Kommentare wie „Zu dieser Musik marschierte Mussolini nach Rom“ oder „Haltet die Gene sauber und den Traum hoch“.
Auf Partys wird der Song seit Längerem in seiner abgewandelten Form mitgesungen. Das Magazin Katapult-MV entdeckte den mutmaßlich ersten Fall im Oktober 2023 in Mecklenburg-Vorpommern. Videos, die im Netz kursieren, dokumentieren weitere Fälle im Januar 2024 in Pahlem (Kreis Dithmarschen) und in Schenefeld (Kreis Steinburg) in Schleswig-Holstein. Laut der Staatsanwaltschaft Itzehoe laufen die Ermittlungen.
Schüler*innen im Privatinternat feiern den Song
Seit dem Wochenende häufen sich nun die Fälle. Feiernde sangen die rassistischen Parolen auf einer Party im ostfriesischen Emden sowie auf einem Schützenfest bei Wolfsburg – die Liste ist lang. Auf einer Party des Privatinternats Louisenlund im Kreis Rendsburg-Eckernförde sollen Schüler*innen am Donnerstagabend den Text gebrüllt haben. 40 Schüler*innen waren auf der Party, acht sollen beteiligt gewesen sein. Die Feier sei daraufhin von einer Pädagogin beendet worden.
Die Schüler*innen sollen nun ihr Verhalten reflektieren und sich ehrenamtlich betätigen, zudem soll der Vorfall im Unterricht aufgearbeitet und die Demokratieerziehung ausgeweitet werden. So steht es in einer Stellungnahme des Leiters der Stiftung Louisenlund.
Auch der Hamburger Schlagermove kam nicht ohne Gigi D'Agostinos umgedichteten Partyhit aus. Während die 400.000 Besucher*innen mit bunten Blumenoutfits auf St. Pauli feierten und in die Büsche kotzten, soll eine Gruppe von Menschen die rassistischen Parolen skandiert und den Hitlergruß gezeigt haben. Der Veranstalter distanziert sich von dem Vorfall. „Mit dem Verhalten wurden die Grundwerte des Schlagermoves, der für Offenheit und Toleranz steht, mit Füßen getreten“, heißt es in dem Statement des Veranstalters. Die Polizei ermittelt und sucht nach Zeug*innen und Video- oder Tonaufnahmen.
Während das Sylt-Video bundesweit Empörung hervorrief, ist Çağan Varol, Rassismusforscher an der Uni Kassel, nicht überrascht von den Vorfällen. „Ich denke nicht, dass sich diese Vorfälle jetzt besonders häufen, sie waren immer schon weit verbreitet“, sagt er der taz. Seit Veröffentlichung des Videos habe sich aber die öffentliche Wahrnehmung verändert. „Da sich die mediale Aufmerksamkeit gerade darauf richtet, fallen uns diese Vorfälle vermehrt auf“, sagt Varol.
Rassist*innen fühlen sich sicher
Was das Video aber laut dem Wissenschaftler auf besorgniserregende Weise zeige, sei ein „Gefühl der Sicherheit“ bei der rassistischen Gruppe. Varol kritisiert auch das fehlende Eingreifen der anderen Partygäst*innen. Das Erstaunen über den Rassismus der gut Betuchten verstehe er hingegen nicht. „Oft wird davon ausgegangen, dass die einkommensschwachen Klassen oder Menschen ohne Studienabschluss rassistisch sind. Sylt zeigt das genaue Gegenteil und die Verbreitung rassistischen Gedankenguts in allen Schichten.“
Enttäuschend sei für ihn, dass sich seit den großen Demonstrationenen gegen rechte Hetze Anfang des Jahres offenbar wenig verändert habe. Mit Besorgnis blicke Varol zudem auf ein anstehendes Großevent, bei denen auch nationalistische Gefühle hochkochen könnten: „Auch während der Fußball-EM der Männer werden wir sicherlich sehr oft rassistisches Verhalten von Mittelschichten beobachten können“, sagt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen