piwik no script img

Nach dem Messermord an Lünener SchuleSchulsozialarbeit wird vernachlässigt

In Lünen hat ein Schüler einen Mitschüler erstochen. Der Schule war er als aggressiv bekannt – dem Jugendamt nicht. Wie kann so etwas passieren?

An der Käthe-Kollwitz-Schule in Lünen wird am Tag nach der Tat getrauert Foto: ap

Wie viele andere in Nordrhein-Westfalen hat Bianca El Kaleb der Vorfall in Lünen schockiert. Die 41-Jährige arbeitet nur wenige Kilometer entfernt an einer Grundschule im Dortmunder Osten – und zwar als Schulsozialarbeiterin. 180 SchülerInnen hat El Kaleb zu betreuen, muss Eltern auf verwahrloste Kinder ansprechen, Vertrauen zu verhaltensauffälligen Kindern aufbauen – und frühzeitig die Warnsig­nale erkennen, die eine mögliche Aggression der Jungen und Mädchen gegen sich oder andere verraten.

„Allein letztes Jahr hatten wir vier suizidgefährdete Jungs“, sagt El Kaleb. Aggression gegen MitschülerInnen sind an der Tagesordnung, erst vergangenen Donnerstag ging ein 10-Jähriger auf einen Mitschüler los – und war danach für ein paar Minuten verschwunden. „So ein schrecklicher Vorall wie in Lünen“, sagt El Kaleb, „hat aber Gott sei Dank nichts mit unserem Arbeitsalltag zu tun. Aber präsent ist er natürlich schon.“

Zwei Tage zuvor hatte ein 15-Jähriger einen Mitschüler auf dem Schulgang einer Gesamtschule in Lünen, zehn Kilometer von Dortmund, mit einem Messer erstochen und damit landesweite Bestürzung ausgelöst. Von einer „furchtbaren Tat“ sprach NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP), Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) sagte : „Es ist die schlimmste Vorstellung, die man als Eltern haben kann: Das eigene Kind verlässt das Haus und kommt nicht wieder.“

Tröstende Worte, die immer fallen, wenn deutsche SchülerInnen Opfer von Gewalt werden. Wie vor wenigen Wochen, als eine 15-Jährige im pfälzischen Kandel von ihrem afghanischen Exfreund erstochen wurde. Oder Mitte 2016, als zwei Berliner Schüler und ihre Lehrerin dem Terroranschlag von Nizza zum Opfer fielen.

Kein Hinweis auf ein Motiv

Doch die Tat in ­Lünen ist anders – nicht nur weil sie in der Schule stattfand: Es gibt bislang auch keinen Hinweis auf ein Motiv. Nicht die Eifersucht des Expartners, nicht der blinde Hass eines religiösen Fundamentalisten – ein schiefer Blick des Opfers hatte die tödliche Messer­attacke zur Folge. Was man bisher mit Sicherheit sagen kann ist aber: Der mutmaßliche Täter war schon vorher ein verhaltensauffälliger Jugendlicher. Der Polizei war er wegen einer Sachbeschädigung bekannt, die Schulsozialarbeiterin hat ihn Ermittlern gegenüber als „aggressiv“ und „unbeschulbar“ bezeichnet.

Dennoch, versichert eine Mitarbeiterin der Stadt Lünen der taz, sei der Jugendliche dem Jugendamt nicht bekannt gewesen. Die Schule hat sich also nicht an die Jugendhilfe gewandt, die dann die Herausnahme des Jungen aus dem Unterricht oder die psychische Behandlung hätte empfehlen oder den Fall vor ein Familiengericht hätte bringen können, um auch gegen den Willen der Eltern zu handeln. So stellt es die Stadt Lünen dar.

Seit zehn Jahren diskutieren wir mit Stadt und Land über Entfristung der Stellen

Volker Maibaum, GEW Dortmund

Hat die Schule möglicherweise die Gefahr, die von dem 15-Jährigen ausgeht, unterschätzt? Oder hat die Schulsozialarbeiterin, die für fast 1.000 SchülerInnen zuständig ist, schlicht nicht die Kapazitäten, um sich eingehend mit Einzelnen zu beschäftigen?

Gerne hätte man mit dem Schulleiter oder der Schulsozialarbeiterin der Lüner Käthe-Kollwitz-Gesamtschule darüber gesprochen. Doch kommt trotz mehrfacher Anfragen der taz kein Gespräch zustande. Auch von Seiten der Stadt oder der Bezirksregierung kann niemand kurzfristig zu dieser Frage Stellung nehmen. Und die Landesregierung erklärt sich für nicht zuständig.

Schulsozialarbeit ist Aufgabe der Kommunen

In NRW ist – wie in anderen Bundesländern auch – Schulsozialarbeit nicht, wie man meinen könnte, Sache der Bildungsministerin, sondern Aufgabe der Kommunen, weil sie unter Jugendhilfe fällt. Mit der Folge, dass das Ministerium für Schule und Bildung noch nicht mal weiß, wie viele SchulsozialarbeiterInnen genau an ihren Schulen eingesetzt sind. Gewerkschaften wie GEW und Verdi fordern seit Längerem, Schulsozialarbeit als Pflichtaufgabe in das Schulgesetz zu verankern – und eine feste Stellenquote nach Schülerzahl festzulegen.

Was nicht heißt, dass die Landesregierung nichts für die Schulsozialarbeit machte. Für 2018, heißt es aus dem Bildungsministerium, stünden Mittel für 962 zusätzliche Stellen zur Verfügung. In ihrem Koalitionspapier haben sich CDU und FDP darauf verständigt, die „Stärkung und verlässliche Fortführung der Schulsozialarbeit“ erreichen zu wollen. Zudem mischt auch der Bund mit. Über das sogenannte Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) finanzierte es bis 2013 auch SchulsozialarbeiterInnen.

In Dortmund stammen 81 der insgesamt rund 130 Stellen aus dem BuT-Programm. Auch die Stelle von Bianca El Kaleb. Und die war – wie alle BuT-Stellen, bislang „sachgrundlos“ befristet. Nun hat der größte Dortmunder Träger, die Interessengemeinschaft Sozialgewerblicher Beschäftigungsinitiativen ISB, 38 Stellen entfristet. Mit dem heutigen Mittwoch gilt das auch für El Kalebs Stelle – nach sieben Jahren als Schulsozialarbeiterin.

„Seit zehn Jahren diskutieren wir mit Stadt und dem Land über Entfristung der Stellen“, sagt Volker Maibaum von der GEW Dortmund. Über den Erfolg freut er sich. „Man muss auch ehrlich zugeben, dass sich die Stadt sehr für die Sozialarbeit einsetzt.“

Reicht das?

Die Frage ist nur: Reicht das? Oder muss man darauf warten, dass der Bund künftig für Dauerstellen sorgt? Schließlich wollen Union und SPD in einer weiteren Groko das Kooperationsverbot kippen. Das könnte auch bedeuten: Schulsozialarbeit aus Bundesmitteln. Die Kommunen könnten es vertragen. In Dortmund gibt es derzeit an 92 der 159 Schulen einen oder mehrere Sozialarbeiterstellen. Insgesamt sind es rund 130.

Die für Jugendarbeit und Schulverwaltung zuständige Dezernentin Daniela Schneckenburger (Grüne) spricht gegenüber der taz von Schulsozialarbeit als „unverzichtbaren Teil“ der Arbeit an Schulen. Laut Unicef NRW ist in Dortmund mittlerweile jedes dritte Kind von Armut betroffen. „Die Lage der Kinder hat sich verändert“, stellt auch Schneckenburger fest. Und da leiste Schulsozialarbeit eine wichtige Aufgabe: „Sie bietet älteren Kindern Orientierung im System und macht so Hilfe zugänglich.“ Und natürlich, räumt die Dezernentin ein, würde an vielen Schulen Verstärkung nicht schaden.

Wie El Kaleb berichten auch andere SchulsozialarbeiterInnen, dass sie Überstunden machen und dennoch nicht für alle SchülerInnen da sein können. Von einem Betreuungsschlüssel, wie sie die Gewerkschaften fordern, sind die meisten Schulen weit entfernt. Und: Nicht für jede Schulform ist Schulsozialarbeit vorgesehen. So sieht das Landesgesetz Schulsozialarbeit an Grundschulen gar nicht vor.

Bianca El Kaleb ist überzeugt, dass sich dies ändern müsste. „Diejenigen, die an der Grundschule auffällig sind, haben an weiterführenden Schulen erst Recht Probleme. Über meine Arbeit kann ich Bindungen zu ihnen aufbauen, die Halt geben können.“ Dafür steht ihr Büro allen SchülerInnen offen. Zudem kümmert sie sich gezielt um die ViertklässlerInnen, die davor stehen, an eine weiterführende Schule zu wechseln. Sie unternimmt Ausflüge in den Dortmunder Wald oder geht mit ihnen auf einen Abenteuerspielplatz. „Zeit des gemeinsamen Erlebens ist wichtig für soziale Bindungen“.

Wenn man das Kindeswohl im Blick hat, müsste man eigentlich das Gesetz ändern

Bianca El Kaleb, sozialarbeiterin

Doch ein grundlegendes Problem kann El Kalebs Arbeit nicht lösen. Wenn beispielsweise ein suizidgefährdetes Kind nach der Grundschule an eine Gesamtschule oder ein Gymnasium wechselt, entscheiden die Eltern, ob El Kaleb die neue Schule über das Kind unterrichten darf. Weiterführende Schulen werden also möglicherweise nicht gleich auf den Handlungsbedarf aufmerksam. Und wenn doch, fangen sie bei der Betreuung von null an, sagt Bianca El Kaleb. „Wenn man das Kindeswohl im Blick hat, müsste man eigentlich das Gesetz ändern“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen