Nach dem Massaker im Kibbuz Kfar Aza: Der Verwesungsgeruch ist noch da
Ausgebrannte Häuser, blutgetränkte Teppiche und von Einschusslöchern übersäte Wände prägen aktuell das Kibbuz Kfar Aza. Taten der Hamas.
Schahar Etinger ist das erste Mal seit dem Massaker zurückgekehrt. „Ich habe keine Worte, es scheint mir nicht real, obwohl ich mittendrin stehe“, sagt der 25-Jährige, der in Kfar Aza aufgewachsen ist. Während des Angriffs habe er sich 21 Stunden lang mit seinen Eltern versteckt.
Auf dem Weg durch das Kibbuz reihen sich niedrige Unterkünfte jeweils mit ein bis zwei kleinen Zimmern, einer Kochecke und einem kleinen Bad. Hier am Ortsrand hätten vor allem die jüngeren der 750 Kibbuzbewohner gelebt, erzählt Etinger. Kaum jemand habe es nach Beginn der Invasion durch die Hamas geschafft, sich aus diesem Teil des Kibbuz heraus zu retten. Drei seiner Freunde hat die Hamas mutmaßlich als Geiseln nach Gaza gebracht.
Zwischen dutzenden niedrigen Wohneinheiten streifen internationale Journalisten herum, die das Pressebüro der israelischen Regierung ins Sperrgebiet um Gaza eingeladen hat. Rettungskräfte, die nach dem 7. Oktober hier und in anderen Grenzorten eintrafen, berichten von dem Grauen, das sie nach dem Überfall vorgefunden hatten.
Unvorstellbare Taten
Vier Wochen später liegen unter umgestürzten Regalen zerbrochene Bilderrahmen mit Familienfotos, Bücher, Schuhe und eine zerbrochene Violine. „Ich erinnere mich an ein Haus, in dem ein Geburtstagskuchen auf dem Tisch stand. Ich habe mich umgeschaut und die Fotos am Kühlschrank hängen sehen: zwei Kinder, zwei Erwachsene. Dann habe ich den Geruch nach verbranntem Fleisch bemerkt, der in der Luft hing“, erzählt Simcha Greinemann, ein Freiwilliger des Bergungsdienstes Zaka.
Im Hinterzimmer habe sein Team die Körper von drei Erwachsenen und zwei Kindern gefunden, die aneinandergeklammert auf dem Boden ihres Schutzraums verbrannt waren.
In einem anderen Haus habe er eine Frau von der Hüfte abwärts nackt über ihr Bett gebeugt gefunden. Ihr war offenbar von hinten in den Kopf geschossen worden. „Als wir sie umdrehten, sahen wir, dass ihre Hände eine entsicherte Granate umklammerten.“ In einem anderen Haus habe er ein etwa sechsjähriges Kind gefunden, in dessen Kopf ein Messer steckte.
„Ich verstehe nicht, wie Menschen behaupten können, das sei nicht passiert“, sagt Greinemann. Die Touren sollen der Relativierung und Negierung entgegenwirken, mit denen die Hamas trotz hunderter Videos und Fotos der Massaker Zweifel an den Ereignissen des 7. Oktober streut. So behauptete etwa Mousa Abu Marzouk vom Politbüro der radikalislamischen Gruppe in einem Interview mit dem britischen Sender BBC am Samstag, die Hamas habe am 7. Oktober keine Frauen, Kinder und Zivilisten angegriffen.
Gleichzeitig will die israelische Regierung mit den Journalistenfahrten ihr eigenes Narrativ in die Medien bringen: „Hamas ist Isis“, betonen die Tourenbegleiter des Regierungspressebüros mehrmals. Israelische Politiker, darunter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, wiederholen diesen Satz seit den Massakern regelmäßig.
Der israelische Botschafter in Berlin ging noch einen Schritt weiter und proklamierte bei X (vormals Twitter): „Hamas ist schlimmer als ISIS“. Ende Oktober zerstörten israelische Soldaten das Haus des Vize-Vorsitzenden des Hamas-Politbüros im Westjordanland. Auf den Trümmern hissten sie Berichten zufolge eine Fahne mit der Aufschrift „Hamas = Isis“.
Die ursprünglich als sozialistische Gemeinschaftssiedlungen gegründeten Kibbuzim entstanden mehrheitlich zwischen den 1930er und 1960er Jahren. Besonders in den Jahren um die Gründung des jüdischen Staates hatten sie aufgrund ihrer strategischen Lage auch militärische Bedeutung. Um 1948 lebten rund 8 Prozent der Israelis in einem Kibbuz. Heute gibt es noch etwa 270.
Die oft auf Landwirtschaft ausgerichteten Bewohner teilten in der Hochphase der Kibbuzbewegung ihr Eigentum und lebten teils in Gemeinschaftsunterkünften. In den letzten Jahrzehnten wurden viele dieser Gemeinden infolge der Abwanderung junger Menschen und wirtschaftlicher Probleme privatisiert. In einigen der Kibbuzsiedlungen rund um den Gazastreifen standen die Bewohner der israelischen Friedensbewegung nahe.
Mehr als 1.400 Menschen starben beim Angriff der Hamas. Rund 240 wurden in den Gazastreifen verschleppt. 18 Bewohner von Kfar Aza werden unter den Geiseln vermutet. Rund 20 Leichen von Angreifern wurden in dem Dorf geborgen.
Das Ausmaß des Massakers ist für viele in Israel noch immer schwer zu begreifen. Bis heute finden Beerdigungen von Opfern statt, die erst jetzt identifiziert werden konnten. Immer wieder wird der Angriff als das schlimmste Trauma seit dem Holocaust bezeichnet.
Entsprechend entschieden fällt seither die israelische Antwort aus. Bei Kfar Aza donnern ohrenbetäubend die nahen Artilleriegeschütze. Bei ihrem Gegenangriff hat die Armee binnen weniger Wochen ganze Stadtviertel im Gazastreifen dem Erdboden gleichgemacht. Hunderttausende der mehr als zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens sind nach israelischen Aufforderungen in den Süden geflohen.
Dort haben sie aufgrund der israelischen Blockade jedoch kaum noch Wasser, Nahrungsmittel, Strom oder Medikamente. Mehr als 10.000 Menschen sind laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza getötet worden, darunter über 4.000 Kinder. Schon jetzt ist dieser Krieg der blutigste im israelisch-palästinensischen Konflikt seit Israels Gründung 1948.
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte wiederholt, Israel werde seine Angriffe nicht beenden, bevor die Hamas zerstört und die Geiseln freigelassen seien. Wie ein Sieg über die Hamas aussehen soll und wie es danach im Gazastreifen weitergehen könnte, ist bisher jedoch unklar. Auch konnten israelische Soldaten wohl erst eine der Entführten befreien. Der bewaffnete Arm der Hamas meldete hingegen, dass mehr als 60 Geiseln wegen der israelischen Luftangriffe vermisst würden. Die Angaben lassen sich nicht überprüfen.
Der mangelnde Fortschritt und der Versuch Netanjahus, die Verantwortung für das kolossale Versagen der Sicherheitsbehörden auf seine Generäle abzuwälzen, hat bei vielen das Gefühl gestärkt, sich in der Krise nicht auf die politische Führung verlassen zu können. In der israelischen Gesellschaft wächst unter der Trauer und dem Schock die Wut auf die Regierung. Immer häufiger kommt es zu Protesten vor dem Armeehauptquartier, dem Parlament und Netanjahus Wohnort in Jerusalem.
Die Bewohner von Kfar Aza und rund 120.000 weitere Israelis mussten sich aus den Grenzgebieten nahe dem Gazastreifen sowie im Norden nahe Libanon in Sicherheit bringen. Auch Maor Moravia ist heute nur zu Besuch in dem Ort, der vorher sein Zuhause war. „Kfar Aza war unser kleines Paradies, ein sicherer Ort für mich. Jetzt liegt er in Ruinen“, sagt der 37-Jährige.
Mit seiner Frau und seinen Kindern überlebte er versteckt in ihrem Schutzraum. Als nach 20 Stunden mitten in der Nacht Soldaten an die Türe klopften, habe er sich zunächst geweigert, zu öffnen. „Ich habe ihnen alle möglichen Fragen gestellt, um sicherzugehen, dass sie nicht bloß Angreifer in Uniform sind.“ Er wolle sein Zuhause wiederaufbauen, sagt Moravia, doch der Ort und die Gemeinschaft seien schwer beschädigt.
Schahar Etinger und seine Mutter Edith wohnen jetzt in Naharia im Landesinnern. Sie sei zum zweiten Mal seit dem Angriff hier, sagt die 59-Jährige, die ihren Sohn bei der Rückkehr in den Kibbuz begleitet. Sie müsse den Ort sehen, um zu realisieren, was passiert sei.
Ihre Schwiegermutter habe Auschwitz überlebt, erzählt sie. „Als wir uns im Schutzraum versteckten und draußen die Angreifer redeten und lachten, da musste ich an ihre Geschichten denken, und ich habe verstanden, wie es sich für die Juden damals angefühlt haben muss.“ Sie habe mehr als 40 Jahre an der Gazagrenze gelebt. „Kfar Aza ist mein Zuhause. Ich habe an den Frieden geglaubt und ich würde gern zurückkehren.“ Vorher aber müsse die Hamas zerstört werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“