Nach dem Erdbeben in der Türkei: Politisches Nachbeben
Die Kritik gegenüber Präsident Erdoğan wird immer lauter. Vor allem in der Baubranche seien in den letzten Jahren Vorschriften gebrochen worden.
Die Zerstörung sei ein „Plan des Schicksals“ gewesen, erklärte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in der Stadt Kahramanmaraş. Er fuhr am dritten Tag nach dem Unglück erstmals ins Krisengebiet. In Hatay, einer Provinz im Westen von Südanatolien, versicherte Erdoğan den Überlebenden: „Wenn die Autorität über mir nicht verantwortlich gewesen wäre, würde ich heute nicht so sprechen, ich würde ganz anders sprechen.“
Zahlreiche Menschen stimmen seinen Worten zu und beklagen gottergeben ihr Schicksal. Es gibt aber auch viele, die mit jedem weiteren Tag wütender werden. „Wo ist diese Regierung? Wo ist dieser Recep Tayyip Erdoğan?“, brüllt ein Mann vor den Überresten einer Nachbarschaft in Kahramanmaraş. Sein Video verbreitet sich schnell über die sozialen Medien. „Wo ist der Mann, der das Erdbeben von 1999 kritisiert hat?“, schreit der Mann verzweifelt weiter.
Bisher hat kein anderes Beben in der Türkei so viele Todesopfer gefordert wie die Erschütterung von 1999. Das Epizentrum lag bei der Stadt Izmit in der Westtürkei und zerstörte auch weite Teile Istanbuls. Mehr als 17.000 Menschen starben. Viele Häuser stürzten ein, weil sie nicht solide gebaut waren. Als Experten später die Bausubstanz untersuchten, fanden sie oft eine Mischung aus verunreinigtem Meeressand und wenig Beton. Erdoğan versprach damals, sein Bestes zu geben, damit eine solche Tragödie nicht wieder passiere.
Korruption weit verbreitet
Tatsächlich hat sich in der Baugesetzgebung seitdem viel getan. Es wurden zum Beispiel Richtlinien erlassen, um Neubauten und ältere Häuser erdbebensicher zu machen. Trotzdem stürzten in den zehn von den Erdbeben betroffenen Provinzen des türkischen Südostens unzählige junge wie alte Gebäude in sich zusammen. Schnell gebaute Privathäuser und von der Regierung erst vor ein paar Jahren eingeweihte Rathäuser, Krankenhäuser und selbst Straßen hielten den Erschütterungen nicht stand.
Selbst die Landebahn des Flughafens in Hatay brach auf. Bevor der Flugplatz gebaut wurde, hatten Wissenschaftler gewarnt, dass dieser auf einer Verwerfungslinie liege. Das sind die Berührungslinien der Platten, die besonders erdbebenanfällig sind.
Dr. Ali Sonay vom Institut für Studien zum Nahen Osten und zu muslimischen Gesellschaften der Universität Bern sieht das Problem im System: Die Bauvorschriften und Kontrollmechanismen seien in der Vergangenheit nicht immer umgesetzt worden. „In der Folge konnte zum Teil nicht kontrolliert werden, welche Baufirmen zum Beispiel welche Substanzen einsetzen.“
Die Konstruktionswirtschaft sei in den vergangenen Jahren explodiert. Sonay geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass die Umgehung von Sicherheitsregularien und Korruption weit verbreitet sind. „Kontrollmechanismen haben nicht immer funktioniert.“
Ein Anwohner aus den betroffenen Gebieten bestätigt das: „Unser Haus war für vier Stockwerke zugelassen. Später wurden ohne Erlaubnis zwei weitere Stöcke draufgesetzt, und jetzt ist alles zusammengefallen“, erzählt ein Mann aus Gaziantep, der anonym bleiben möchte. Dass höher als erlaubt gebaut wird, ist in einigen Gegenden der Türkei keine Ausnahme. Genauso ist es üblich, dass alle paar Jahre Amnestien durchgeführt werden – auch für Gebäudeteile ohne Sicherheitsgenehmigung. Laut einer Untersuchung der Ingenieur- und Architektenkammer der Stadtplaner Istanbul sollen bis zu 75.000 Gebäude in der Erdbebenzone solche Bauamnestien erhalten haben.
35 Milliarden Dollar für Erdbebensteuer
Das ist sicher kostengünstiger, als nach Vorschrift zu bauen. Nach dem 1999er Beben hatte man aber für die Finanzierung der Sicherheit von Gebäuden und beim Ausbau der Infrastruktur für den Katastrophenfall gesorgt: Landesweit wurde die „Besondere Kommunikationssteuer“ eingeführt. In der Türkei ist sie als „Erdbebensteuer“ bekannt. Seit ihrem Bestehen sind Schätzungen zufolge umgerechnet rund 35 Milliarden US-Dollar zusammengekommen.
Viele Menschen fragen sich jetzt, was mit dem Geld passiert ist. Die Opposition beschuldigt die Regierung, es zweckentfremdet zu haben. Manche Kritiker verweisen auf ein Fernsehinterview eines früheren Ministers unter Erdoğan aus dem Jahr 2011. Darin erklärt er, dass man das Steuergeld für Gesundheit, Straßen, Bahnstrecken, Luftfahrt, Landwirtschaft, Bildung und Rückzahlung der Schulden beim Internationalen Währungsfonds ausgegeben habe. Von Bausicherheit sprach der Minister in dem Interview nicht.
Mitarbeit: Lisa Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?