Nach dem Eklat mit Washington: Ukrainer:innen erwarten einen Plan B
Die Menschen in der Ukraine solidarisieren sich mit ihrem Präsidenten Selenskyj. Gleichzeitig vermissen sie eine Perspektive für ein Kriegsende.
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Russland spielt Schach, die USA spielen Karten, die Ukraine spielt Risiko – aber welche Rolle spielt Europa? Nach dem Eklat im Weißen Haus stellen sich die Ukrainer:innen genau diese Frage. Die Antwort darauf suchen sowohl für die Ukrainer:innen als auch für Europa selbst der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premierminister Keir Starmer.
Der Westen befinde sich „an einer historischen Weggabelung“, und „die Zeit zum Handeln ist gekommen“ – mit diesen Worten fasste der britische Regierungschef das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs am 2. März in London zusammen, an dem Vertreter:innen aus 18 Ländern teilnahmen.
Die ukrainische Politologin Marija Solkina kommentierte in einem Interview mit Radio Free Europe/Radio Liberty den von Macron vorgeschlagenen Plan einer einmonatigen Waffenruhe: „Diese Idee dient eher dazu, die Emotionen in Washington zu beruhigen, denn man muss Donald Trump zeigen, dass Europa bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Das wird den Kriegsverlauf nicht ändern, aber es zeigt, dass Europa handlungsfähig ist“. Die Initiative könne laut Solkina ein Schritt zur Wiederherstellung der beschädigten Kontakte zwischen der Ukraine und den USA sein.
Viele Ukrainer:innen verfolgten den Skandal im Oval Office live, denn nicht nur ukrainische Politiker:innen, sondern auch einfache Bürger:innen hatten große Hoffnungen in dieses Treffen mit dem US-Präsidenten gesetzt. Schock und Empörung über die Rhetorik der amerikanischen Partner waren und bleiben die dominierenden Reaktionen der Ukrainer:innen auf das, was sie gesehen haben.
Welle der Solidarität
Die breite Solidarisierung der Ukrainer:innen mit Selenskyj begann bereits zwei Wochen zuvor, nach den ersten Angriffen von Donald Trump, der ihn als „Diktator“ bezeichnete. Der verbale Schlagabtausch im Weißen Haus verstärkte die Welle der Solidarität mit Selenskyj in der Bevölkerung noch weiter.
Die Ukrainer:innen vereinen sich jedoch nicht um Selenskyj als Person, sondern um die Flagge und die Institutionen des Staates. Die kritische Mehrheit der Ukrainer:innen nahm die Versuche von Trump und seinem Vize J.D. Vance, Selenskyj öffentlich zu demütigen, als persönliche Beleidigung wahr – zumal sie in den Angriffen der Amerikaner auch die russische Propaganda gespiegelt sahen.
„Ich habe nicht für Selenskyj gestimmt und werde ihn nach dem Krieg auch nicht wählen, aber ich unterstütze ihn und seine Haltung in dieser Situation voll und ganz. Er verteidigt die Interessen der Ukraine mit Würde“, meint Natalija Tschala, eine Rentnerin aus Kyjiw.
Auch aus der konstruktiven ukrainischen Opposition war Unterstützung für Selenskyj zu hören: „Es war schmerzhaft für mich, den Streit im Oval Office mit anzusehen. Ich habe keine Illusionen über die Position der neuen US-Regierung. Aber Staatsführung, besonders in Kriegszeiten, erfordert staatstragende Entscheidungen, einen kühlen Kopf und weniger Emotionen“, kommentierte die Parlamentsabgeordnete der Partei des ehemaligen Präsidenten und scharfen Selenskyj-Kritikers Petro Poroschenko, Iryna Heraschtschenko.
Beziehungen wieder herstellen
Sie fordert das Team Selenskyj auf, den Ukrainer:innen einen Plan B vorzulegen, falls die Ukraine ohne militärische und finanzielle Unterstützung der USA bleibt. Heraschtschenko ruft außerdem dazu auf, sich für die Wiederherstellung der Beziehungen zwischen Kyjiw und Washington einzusetzen, die sie als für die Ukraine kritisch wichtig betrachtet.
Die Ersten, die die Auswirkungen eines möglichen Stopps der US-Hilfe spüren werden, sind die ukrainischen Soldat:innen an der Front: Die Abschaltung des US-Satellitensystems Starlink würde sie von der Kommunikation abschneiden, das Fehlen von Geheimdienstinformationen Operationen erschweren und der Mangel an Munition zu höheren Verlusten führen.
„Selenskyj hat alles richtig gemacht, in diesem Skandal hat er auch die Ehre der ukrainischen Soldat:innen verteidigt. Aber jetzt wird es für uns sehr schwer. Möglicherweise so schwer wie noch nie zuvor“, vermutet der Soldat Anton N., der an den Kämpfen um Awdijiwka in der Region Donezk während des sechsmonatigen Einfrierens der US-Militärhilfe im Jahr 2023 teilgenommen hat.
Es fällt den Ukrainer:innen zunehmend schwer, die Moral hochzuhalten und einem Rückgang des Kampfgeistes entgegenzuwirken, da sie keine Klarheit darüber haben, wie ein Plan B aussehen könnte oder welche Perspektiven für ein Kriegsende bestehen. Gleichzeitig schließen sie weiterhin die Möglichkeit einer Kapitulation aus und setzen große Hoffnungen in die Bereitschaft Europas, sowohl die Ukraine als auch sich selbst zu schützen.
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