Nach Johnson-Merkel-Gespräch zu Brexit: Die Radikalen machen wieder mobil
Britische Populisten begleiten die Brexit-Verhandlungen mit Ressentiments gegen Deutschland. Das EU-Lager kontert mit Unterstellungen.
Die Radikalen machen wieder mobil in der entscheidenden Phase der Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über ein für beide Seiten akzeptables Brexit-Abkommen. Auslöser für den kruden Aufschlag war die Meldung, Angela Merkel habe Boris Johnson am Telefon gesagt, Großbritannien werde die EU nur verlassen dürfen, wenn es Nordirland in der EU-Zollunion belässt – eine schon von Theresa May als „für keine britische Regierung annehmbare“ Aufteilung des britischen Staatsgebiets durch eine Zollgrenze.
Ob die Wiedergabe des Johnson-Merkel-Gesprächs stimmt – und sie ist bis jetzt erstaunlicherweise weder klar bestätigt noch wirklich dementiert, auch wenn alle möglichen Leute, die es gar nicht wissen können, sie für unwahrscheinlich, da unmerkelhaft erklärt haben – ist leider völlig egal. Reflexhaft lässt sie beide Seiten auf die Barrikaden der Selbstgerechtigkeit steigen. Während das Farage-Lager gegen deutsche Dominanz schäumte, schlagzeilte am Mittwoch die Süddeutsche Zeitung: „Johnson gibt Brexit-Verhandlungen auf“ – eine Falschmeldung, denn es wird weiterverhandelt. Auf der zweiten Seite legte das Blatt mit eigenen Weltkriegstiteln nach: „Voll auf Angriff“ und „Der Dünkirchen-Moment“.
Aus Dünkirchen wurde im Jahr 1940 nach der deutschen Eroberung Frankreichs die geschlagene britische Armee auf die Insel evakuiert. Dass eine führende deutsche Tageszeitung ein Telefonat zwischen den Regierungschefs Deutschlands und Großbritanniens mit dieser Metapher korrekt zusammenzufassen meint, entspringt derselben unterirdischen Geisteshaltung wie die Leave.EU-Fotomontage, bloß subtiler ausgedrückt.
Suche nach Gemeinsamkeiten
Der Text der SZ behauptete, die Briten würden auf einen „Dünkirchen-Moment“ hinarbeiten, weil das Johnson im Wahlkampf nützen werde – dass kein Mensch in Großbritannien von Dünkirchen spricht, wurde verschwiegen. Das bewährte Motto, auf das Beobachter in Brexit-Krisenzeiten immer gern zurückfallen: Man unterstellt den Briten etwas und verweist dann darauf als Grund, warum sie falsch liegen und man sich mit ihnen nicht verständigen kann.
Auffallend häufig ist derzeit von EU-Verantwortungsträgern zu hören oder zu lesen, die Schuld für ein Scheitern der Verhandlungen liege allein auf der britischen Seite. Die kontinentale Lesart ist: London will die Brexit-Gespräche zum Scheitern bringen, notfalls durch das Durchstechen eines vertraulichen Telefonats, und die Schuld dafür der EU in die Schuhe schieben. Am deutlichsten sprach das in Reaktion auf die Telefonaffäre EU-Ratspräsident Donald Tusk in einem Tweet aus, in dem er sich mit Donald Trump verwechselt zu haben scheint: „@BorisJohnson, es geht nicht darum, irgendein blödes Wer-ist-schuld-Spiel zu gewinnen. Es geht um die Zukunft Europas und des Vereinigten Königreiches sowie die Sicherheit und die Interessen unseres Volkes. Du willst keinen Deal, du willst keinen Aufschub, du willst keine Absage, Quo vadis?“
Wer wirklich verhandeln will, stellt nicht Schuldfragen in den Vordergrund, sondern sucht Gemeinsamkeiten und baut auf ihnen einen Konsens auf. Das ist zumindest auf europäischer Seite nicht zu erkennen. Verhandeln heißt aus EU-Sicht: Die Briten legen vor, wir sagen Ja oder Nein (also eigentlich immer Nein). Legitimiert wird das durch die Selbstgewissheit, zu den Guten zu gehören – worin man sich durch Kraut-Vorwürfe bestätigt fühlt. Die in Schottland lebende deutsche Professorin und Anti-Brexit-Aktivistin Tanja Bultmann kommentierte die Merkel-Montage mit: „So sieht Brexit aus.“ Der Satz hätte von Nigel Farage sein können. Wobei sich Leave.EU mittlerweile entschuldigt und das Meme gelöscht hat.
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