NS-Gerichtsprozesse: Ein Leben für etwas Gerechtigkeit
Rechtsanwalt Thomas Walther hat viele alte Nazi-Verbrecher vor Gericht gebracht. Eine Bilanz der NS-Prozesse der vergangenen Jahre.
D er Platz der Angeklagten blieb leer im Gerichtssaal des schleswig-holsteinischen Itzehoe. Irmgard Furchner, 96, die frühere Sekretärin des KZ-Kommandanten von Stutthof, hatte am frühen Morgen des 30. September 2021 ihr Pflegeheim in Quickborn verlassen und ein Taxi bestiegen, das sie bis zu einem Hamburger U-Bahnhof brachte. Dort verlor sich ihre Spur. Sie hinterließ dem Gericht einen handgeschriebenen Brief, in dem sie mitteilte, dass sie zu ihrem Prozess nicht zu erscheinen gedenke.
Furchner wurde noch am selben Tag in Hamburg gefasst und kam für kurze Zeit in Untersuchungshaft. Am nächsten Verhandlungstag saß sie im Rollstuhl im Gericht, mit Kopftuch und Atemschutzmaske vermummt. Angeklagt der Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen, zeigte sie sich keiner Schuld bewusst. In den folgenden Monaten sagte sie kein einziges Wort vor Gericht. Aber sie schien immer aufmerksam zuzuhören.
Kurz vor Ende des Verfahrens brach Furchner ihr Schweigen. Die Beweisaufnahme war abgeschlossen, die Nebenkläger hatten Furchtbares über ihre Erfahrungen in Stutthof gesagt. Furchner sagte drei dürre Sätze: „Es tut mir leid, was geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.“
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Ende Dezember 2022 erging das Urteil. Furchner erhielt eine Jugendstrafe von zwei Jahren zur Bewährung. Zur Tatzeit galt sie als Heranwachsende, Furchner ist Jahrgang 1925. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) bestätigte im August 2024 dieses Urteil. Das Gericht entschied auch, dass die elenden Lebensumstände für die Häftlinge in einem NS-Lager als Beihilfe zum Mord gewertet werden können. Und dass es keiner Uniform bedurfte, um dort Morde zu begünstigen.
Tod, Demenz und Gebrechen haben die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen im Jahr 2024 beendet. „Dies war das letzte Mal, dass ein deutsches Gericht über die Verbrechen der Nazis zu urteilen hatte“, sagt Thomas Walther über den Prozess gegen Irmgard Furchner. Der Rechtsanwalt muss es wissen, denn er hat in den vergangenen 15 Jahren die Verfahren gegen ehemalige KZ-Bedienstete in Gang gebracht. 2009 begann das, was Historiker die Spätphase der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen nennen. Ohne Walther hätte es diese Verfahren wohl nie gegeben.
Der Angeklagte wollte demonstrieren, wie die deutsche Justiz unschuldige Rentner quälte
Iwan Demjanjuk machte einen bemitleidenswerten Eindruck. Schräg liegend wurde der damals 89-Jährige am 30. November 2009 auf einer Trage in den Saal des Münchner Landgerichts gebracht. Den Mund halb geöffnet, die Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt, so hinfällig, dass ein Rollstuhl nicht ausreichte, um ihn vor Gericht vorzuführen: So wollte der Angeklagte demonstrieren, wie die deutsche Justiz unschuldige Rentner quälte.
Doch hinter den Backsteinmauern der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim wusste deren Direktor ganz anderes über seinen aus den USA ausgewiesenen Häftling zu berichten, der im Krankentrakt seine Tage verbrachte. Er bereite sich sein Essen selbst zu, lese Zeitung und nehme im Rollstuhl oder mit einer Gehhilfe am täglichen einstündigen Umschluss teil, bei dem Gefangene miteinander ihre Freizeit verbringen, sagte Anstaltsleiter Michael Stumpf damals der taz.
Demjanjuk war der Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen angeklagt, begangen im NS-Vernichtungslager Sobibor. Dort war der ukrainische „Hilfswillige“ der SS 1943 im Einsatz. Etwa 200.000 Jüdinnen und Juden wurden in den Gaskammern von Sobibor ermordet.
Thomas Blatt, der im Jahr 2015 verstarb, war einer von nur 53 Gefangenen, die das Lager überlebten. Blatt zählte in München zu den Nebenklägern. Er berichtete von der Mordstätte: Die Juden aus den Niederlanden seien ahnungslos gewesen, wenn ein SS-Mann ihnen nach der Ankunft erklärte, sie befänden sich in einem „Übergangslager“ und es sei jetzt „aus hygienischen Gründen“ geboten, ein heißes Duschbad zu nehmen. „Sie starben, ohne dass sie wussten, dass sie ermordet wurden“, sagte Blatt vor Prozessbeginn der taz.
„Sobibor war wie eine Fabrik“, beschrieb er das Lager, in dem das Handeln auf das Töten möglichst vieler Menschen ausgerichtet war. An Demjanjuk konnte sich Blatt nicht erinnern: „Ich weiß, wer von den Deutschen in Sobibor was getan hat“, sagte er. „Aber nicht bei den Ukrainern. Es waren zu viele.“ Blatt musste im Alter von 15 Jahren als „Arbeitsjude“ die Hinterlassenschaften der Ermordeten sortieren und entkam beim Sobibor-Aufstand im Oktober 1943.
„Wir müssen die unmittelbare Tatbeteiligung nachweisen“
Im März 2011 wurde Iwan Demjanjuk zu fünf Jahren Haft verurteilt. Aber wenn es nach der lang geübten deutschen Rechtspraxis gegangen wäre, hätte man den Angeklagten gar nicht verurteilen können, ja, nicht einmal vor Gericht wäre Demjanjuk gekommen. Die Ermittler der Zentralen Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg schoben jahrzehntelang in Fällen wie dem von Demjanjuk die Akten in die Ablage, schlossen die Deckel und stellten die Ermittlungen ein. Tausende KZ-Wachmänner entgingen so ihrer Bestrafung. Wie war das möglich?
Im bayerischen Lindau ging 2006, fünf Jahre vor dem Demjanjuk-Urteil, ein 63 Jahre alter Amtsrichter der Pensionsgrenze entgegen. Doch so richtig als Ruheständler mochte sich Thomas Walther sein Leben nicht vorstellen. Er suchte eine neue Herausforderung. Walther fand eine Ausschreibung der Zentralen Stelle. Es wurden Ermittler gesucht.
Im Mai 2024 platzte der Prozess gegen einen ehemaligen Wachmann des KZ Sachsenhausen. Ein Sachverständiger hatte festgestellt, dass der inzwischen 100-Jährige verhandlungs-, vernehmungs- und reiseunfähig sei. Daraufhin lehnte das Landgericht Hanau die Eröffnung des Hauptverfahrens ab.
Doch nun könnte es doch noch zu einem allerletzten NS-Prozesss kommen. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main entschied auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft Gießen und mehrerer Nebenkläger hin Anfang Dezember, dass die Angelegenheit erneut überprüft werden muss. Das medizinische Gutachten weise mehrere Mängel auf, hieß es in der Begründung des Gerichts.
Nun muss das Landgericht Hanau erneut ein entsprechendes Gutachten erstellen lassen. Das könne einige Monate in Anspruch nehmen, sagte ein Sprecher. Ob der Angeklagte vor Gericht erscheinen muss, bleibt also abzuwarten.
Dem Beschuldigten wird Beihilfe zum Mord in mehr als 3.300 Fällen vorgeworfen, mutmaßlich begangen in seiner Einsatzzeit als SS-Wachmann im Konzentrationslager Sachsenhausen zwischen dem Juli 1943 und Februar 1945. „Sollte das Hauptverfahren eröffnet werden, könnte es sich um den letzten Prozess dieser Art handeln, was die historische Bedeutung des Verfahrens unterstreicht“, sagte Frankfurter Generalstaatsanwalt Torsten Kunze. (klh)
Die Verfolgung von NS-Straftätern ist Walther wichtig. Schon sein Vater habe ihn gegen die Nazis geprägt, sagt er. Rudolf Walther nahm nach der Pogromnacht 1938 zwei jüdische Ehepaare auf und versteckte sie so lange, bis sie ins Ausland flüchten konnten. Thomas Walther bewarb sich bei der Zentralen Stelle. Er bekam den Job.
„Ich habe mir im Internet angeschaut, welche wichtigen NS-Größen noch herumlaufen könnten und mir eingebildet, ich könnte einen dieser Männer erwischen“, sagt Walther heute. „Ich dachte, dass die Kollegen alle nah dran seien. Und dann sagte mir der Behördenleiter Kurt Schrimm: ‚Nein, so einfach ist es nicht. Wir müssen die unmittelbare Tatbeteiligung nachweisen.‘ “ Zu irgendwelchen Anklagen werde es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr kommen. Die paar Zeugen seien alt und dement.
Entsprechend geruhsam ging es in der Zentralen Stelle zu. Walther erzählt: „Es gab da eine Art von Kaffeerunden. Bei einer dieser Runden habe ich meine Idee geäußert, dass wir vielleicht irgendetwas anders machen müssten, wofür ich ein mildes Lächeln kassierte, weil man das ja schon immer so gemacht habe.“
Die mutmaßlichen Täter kamen davon – jahrzehntelang
Dieses „immer schon so gemacht“ bezog sich auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1969. In einer Revisionsverhandlung zum Frankfurter Auschwitz-Prozess entschied der BGH damals, dass nicht „jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert“ gewesen und dort „irgendwie anlässlich dieses Programms tätig“ geworden sei, sich „objektiv an den Morden beteiligt“ habe „und für alles Geschehene verantwortlich“ gemacht werden könne. Die Justiz interpretierte das Urteil dahingehend, dass die bloße Tätigkeit in einem NS-Vernichtungslager für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord nicht ausreiche, sondern dass dazu ein individueller Mordvorwurf vorliegen müsse – die „unmittelbare Tatbeteiligung“.
Diese nachzuweisen, fiel freilich sehr schwer. Die meisten Zeugen des Geschehens waren schließlich ermordet worden und die wenigen Überlebenden waren Jahrzehnte nach den Verbrechen nicht in der Lage, einen der einheitlich uniformierten SS-Angehörigen als Täter zu identifizieren. Die mutmaßlichen Täter leugneten jede Schuld und kamen davon. Jahrzehntelang.
Fast 10.000 Menschen arbeiteten bis 1945 alleine als Wachpersonal im KZ Auschwitz. Das Urteil von 1969 sorgte dafür, dass bis ins neue Jahrtausend davon nur 48 verurteilt worden waren. Diese Rechtsprechung sei ein „Ausdruck fehlgeleiteter Verfolgungspraxis“, urteilte der Bundesgerichtshof 45 Jahre später in der Revisionsverhandlung zu Irmgard Furchner, der Sekretärin von Stutthof.
In Ludwigsburg ging Ermittler Thomas Walther im Jahr 2008 daran, diese Rechtspraxis in Frage zu stellen. „Ich habe mir Gedanken gemacht, dass ein Vernichtungslager so etwas wie ein fabrikmäßiger Betrieb war, so wie anderswo, wo einer die Schrauben reindreht und ein anderer den Kotflügel heranbringt. Das Auto ist dann ihr gemeinschaftliches Werk, so wie die menschliche Asche das gemeinsame Werk der SS-Leute war.“
„Teil der Vernichtungsmaschinerie“ und deshalb schuldig
Im November 2008 stand das 50-jährige Jubiläum der Zentralen Stelle an, mit Feierlichkeiten, prominenten Gästen, Journalisten.
Walther war im Vorfeld auf den Fall Demjanjuk gestoßen und fragte seinen Chef Schrimm, ob zu dem Ukrainer Material vorliege. „ ‚Wir haben da eine Beobachtungsakte‘, antwortete Schrimm. ‚Was wird denn da beobachtet?‘ ‚Immer wenn in den Medien darüber berichtet wird, machen wir eine Kopie und fügen die hinzu.‘ Da sagte ich: ‚Wenn wir nichts machen außer deiner Sammlung von Presseausschnitten, dann kommen zum Jubiläum vielleicht raffinierte Journalisten aus den USA und stellen eine Frage zu Demjanjuk. Und dann lautet unsere Antwort, dass wir eine Beobachtungsakte haben. Ich glaube, dann wird das unangenehm mit der Berichterstattung. Irgendetwas sollte man schon ermitteln.‘ Und da hat Schrimm nach kurzer Überlegung gesagt: ‚Na, dann mach mal.‘ Das war der Auftrag.“
Kurt Schrimms Erinnerung ist etwas anders. Die Entscheidung zu Ermittlungen in Sachen Demjanjuk sei selbstverständlich unabhängig vom Jubiläum der Zentralen Stelle erfolgt, schreibt er.
In jedem Fall aber entband Schrimm seinen Ermittler Thomas Walther von jeglicher anderer Arbeit und stellte ihm als Kollegin Kirsten Goetze zur Seite. Das Ergebnis war ein umfangreicher Ermittlungsbericht. Walther erinnert sich: „Am 11. oder 12. November 2008 haben wir dieses Werk der Münchner Staatsanwaltschaft auf den Tisch gelegt. Diesen Termin hatte ich gewählt, weil es der Jahrestag war, an dem mein Vater 1938 die beiden jüdischen Familien versteckt hatte.“
Die Staatsanwaltschaft klagte Demjanjuk an. Das Landgericht München II ließ die Anklage zu. Dies alles geschah, obwohl eben keine unmittelbare Tatbeteiligung des Beschuldigten vorlag. Das Eis war gebrochen.
Im Prozess trat Walther als Zeuge auf. Er unterstrich dort seine Überzeugung, dass bei Massenmorden in Vernichtungslagern schon die Arbeit dort ausreiche, um eine solche Person wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen, weil sie damit den arbeitsteiligen Prozess der Tötung erst möglich gemacht habe. Das Rädchen im Getriebe des Mordens. Das Gericht folgte dieser Argumentation: Demjanjuk sei „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen und deshalb schuldig.
Es lebten noch fünfzig mutmaßliche Verantwortliche von Auschwitz
Damit begannen 66 Jahre nach der Befreiung endlich umfangreiche Ermittlungen gegen mutmaßliche Bedienstete in deutschen Mordfabriken. In der Zentralen Stelle ließ Schrimm eine Liste mit Tausenden Namen von Auschwitz-Wachleuten mit aktuellen Meldedaten bei der Sozialversicherung abgleichen. Nur, so Walthers Kritik, hätte er damit auch schon vorher beginnen können, nämlich, als die Anklage gegen Demjanjuk erfolgte. So aber seien zwei wertvolle Jahre verloren worden, zwei Jahre, in denen die Beschuldigten älter wurden, vielleicht schwer erkrankten oder verstarben, in jedem Fall aber: nicht mehr zur Rechenschaft zu ziehen waren.
Fünfzig noch lebende mutmaßliche Verantwortliche von Auschwitz ermittelte die Zentrale Stelle bis zum Frühjahr 2013. Einige dieser Personen lebten im Ausland, andere waren aufgrund ihrer Gebrechen verhandlungsunfähig, wieder andere verstarben noch vor Beginn der weiteren Ermittlungen. So blieben 30 Fälle, die an Staatsanwaltschaften im ganzen Land abgegeben wurden. Doch fast alle Verfahren mussten aufgrund von körperlichen oder geistigen Gebrechen eingestellt werden. Nur vier Personen wurden wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.
Eine von ihnen namens Helma M., die als Funkerin in der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz gearbeitet hatte, erkrankte. Ihr Prozess platzte.
Der frühere Wachmann Ernst T. verstarb wenige Tage vor dem geplanten Prozessauftakt in Hanau. Blieben zwei SS-Männer: Hubert Z. und Reinhold Hanning.
Das Landgericht Neubrandenburg musste vom Oberlandesgericht Rostock erst dazu gezwungen werden, das Hauptverfahren gegen den früheren SS-Rottenführer Hubert Z. zu eröffnen. Die Richter verschleppten danach den Prozess in dem Bestreben, das Verfahren einzustellen. Sie wurden abgelöst. Doch inzwischen war Hubert Z. an Demenz erkrankt. Der Prozess musste wegen der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt werden.
Enorme Belastung für Überlebende
Blieb ein einziger SS-Mann von ursprünglich 50: Der Prozess gegen Reinhold Hanning begann im Frühjahr 2016 vor dem Landgericht Detmold. Die Anklage lautete auf Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen. Hanning erhielt eine Haftstrafe von fünf Jahren.
Das Hanning-Verfahren war eines von zweien zum Tatkomplex Auschwitz nach 2011. 2015 war in Lüneburg der 93-jährige Oskar Gröning zu vier Jahren verurteilt worden, gegen den bereits in den 1970er Jahren ergebnislos ermittelt worden war. Der Bundesgerichtshof bestätigte später das Urteil. Gröning hatte als eine Art Kassenwart das gestohlene Eigentum der Ermordeten verwaltet und auch an der Rampe Dienst getan, wo die Opfer in das Lager geschleust wurden.
Andere Prozesse richteten sich gegen Beschuldigte aus den KZ Stutthof und Sachsenhausen. Insgesamt kam es so nach dem Demjanjuk-Prozess zu fünf Verfahren gegen ehemalige KZ-Schergen, die auch mit einem Urteil endeten. Dutzende weitere Ermittlungen verliefen im Sand. Die Liste der Staatsanwaltschaften, die ihre Ermittlungen einstellen mussten, ist lang, unendlich lang. Sie reicht von Kiel bis München.
Thomas Walther kann sich gut an die Prozesse erinnern, denn er ist dabei gewesen. Er war da nicht länger Ermittler in Ludwigsburg. Nach seiner Pensionierung arbeitete der Rechtsanwalt nun als Vertreter der Überlebenden und ihrer Nachfahren, die als Nebenkläger vor Gericht auftraten. „Die Belastung der Nebenkläger war enorm“, erinnert sich Walther. „Es gab Überlebende, die gesagt haben, dass es ihnen wichtig sei, den Angeklagten verurteilt zu sehen. Anderen war es wichtiger, dass sie vor der deutschen Justiz aussagen konnten, was ihnen und ihren Familien angetan worden war.“
„Solange meine Kräfte noch reichen, werde ich darüber sprechen“
Justin Sonder hatte die Verfolgung der Juden in Chemnitz überlebt. Er war von der Gestapo nach Auschwitz deportiert worden und hatte auch das KZ überlebt. Befreit wurde Sonder auf einem Todesmarsch in der Oberpfalz von der US-Armee. Sonder war Nebenkläger im Verfahren gegen Reinhold Hanning. „Es ist noch nicht zu spät. Es spricht aus meinem Herzen, dass ein solches Verfahren durchgeführt wird“, sagte er am Tag vor seiner Zeugenaussage in Detmold der taz. Ihm gehe es nicht darum, den Angeklagten im Gefängnis zu sehen, ihm gehe es nicht um Rache. „Ich will erreichen, dass diese schweren Verbrechen noch einmal aufgearbeitet werden“, sagte er 2015.
Zwanzig Jahre lang hatte Sonder nach dem Krieg geschwiegen. In Detmold berichtete er von den Gestapo-Männern, die ihn mit gezogener Pistole anhielten und in den Zug nach Auschwitz zwangen. Er erzählte von der Selektion im Lager, von einer Knieoperation durch die SS ohne Betäubung. „Solange meine Kräfte noch reichen, werde ich darüber sprechen“, sagte er. Justin Sonder ist 2020 in Chemnitz verstorben. Nicht nur die Täter sterben, sondern auch die letzten Überlebenden.
Die vor Gericht gebrachten Täter reagierten unterschiedlich auf die ihnen gemachten Vorwürfe. Es gab Männer wie Iwan Demjanjuk, aber auch den 2022 verurteilten SS-Wachmann von Sachsenhausen Josef Schütz, die leugneten, überhaupt jemals in einem KZ gewesen zu sein, obwohl alle Dokumente das Gegenteil bewiesen. Wieder andere Angeklagte gaben zwar zu, dass sie Dienst in einem Lager getan hätten, sie hätten dabei aber niemanden etwas zuleide getan und seien deshalb unschuldig. Und es gab Ausnahmen, Menschen wie Oskar Gröning, die sich für ihr Handeln entschuldigten – aber juristisch dennoch keine Schuld bei sich erkennen mochten. Aber mehr als das nicht zu Leugnende zuzugeben, das tat keiner der Täter.
„Die Verdrängung führt ein strenges Regime“, sagt Thomas Walther. „Das geht so weit, dass sich die Täter gar nicht mehr daran erinnern können, im KZ gewesen zu sein. Dann wird eine alternative Geschichte erfunden.“ Im Fall von Oskar Gröning sei das anders gewesen. „Der hat in seinem Briefmarkenklub, als jemand den Holocaust leugnete, auf den Tisch gehauen und gesagt: ‚Das war schon alles so. Ich war selbst dabei.‘ “
Walther ist heute 81 Jahre alt. Er wird bald seine Zulassung als Rechtsanwalt zurückgeben. Für seine Arbeit hat er das Bundesverdienstkreuz erhalten. „Ich bin in erster Linie dankbar dafür, dass ich die Gelegenheit hatte, zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen zu sein“, sagt Walther. Es sei kein glänzender Sieg, wie die bundesdeutsche Justiz mit den NS-Verbrechen umgegangen ist. Aber: „Das Thema ist nun abgeschlossen.“
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