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Die letzten NS-ProzesseDie Schuld der alten Männer

Abermals wird in Hamburg ein über 90-Jähriger wegen seiner Beteiligung an NS-Verbrechen angeklagt. Was ist es, was daran irritiert?

Oskar Gröning, der „Buchhalter von Auschwitz“, betritt das Gericht in Lüneburg. Er nahm den zur Vernichtung angelieferten Menschen die Wertgegenstände ab. Später war er einer der wenigen, die Reue zeigten. Gröning starb, bevor er seine Haftstrafe antreten musste. Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Hamburg taz | Die Männer, die jetzt wegen ihrer NS-Verbrechen vor Gericht gestellt werden, sind zwischen 92 und 95 Jahre alt. Schon wegen ihres jungen Alters zu Zeiten des NS-Regimes haben sie keine hohen Posten innegehabt. Viele sterben noch vor Antritt ihrer Strafe. Der Hamburger, gegen den jetzt Anklage erhoben wurde, hat als 17-Jähriger als Wachmann im Konzentrationslager Stutthof gearbeitet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beihilfe zum 5.320 fachen Mord vor. Man liest von dieser und ähnlichen Anklagen und fragt sich, woher das Ungenügen kommt, das einen dabei beschleicht. Warum stellt sich nicht nur Zufriedenheit ein angesichts einer Justiz, die ihre Arbeit tut?

Ich glaube nicht, dass es um Mitleid geht, weil die Angeklagten alt und gebrechlich sind. Es ist vielleicht ein erster Impuls, der aber schnell einem nüchterneren Blick weicht: wenn diese Männer Schuld auf sich geladen haben, wenn sie gemordet oder Beihilfe zum Mord geleistet haben, dann verjährt diese Schuld nicht. Nein, es ist kein Mitleid.

Und hätte man es gehabt, zerschellt es sehr schnell, sobald die Anklage ihre Abstraktion verliert. Und das schon im Zimmer des ersten Staatsanwalts, den man besucht, um ihn nach seinen Erfahrungen mit den späten NS-Prozessen zu fragen. An der Wand hängt dort eine Schautafel, auf die an der y-Achse die Zeit und an der x-Achse die Todesarten im Konzentrationslager Stutthof aufgezeichnet sind. Eine heißt „durch Hunde“ und eine „durch Elektrozaun“ und dort ist vermerkt, wann und wer dort hineingeworfen wurde. Es ist auch ein Säugling darunter.

Ein anderer Staatsanwalt, der sich ebenfalls mit NS-Verbrechen beschäftigt, sagt, dass ihm die Frage immer wieder gestellt werde, dass er sie sich selbst stellt, seitdem er mit der Arbeit begonnen hat: Was wollt ihr mit diesen alten Männern? Wozu dienen diese Prozesse gegen Menschen, die nicht mehr tun als sich auf den Tod vorzubereiten, die keine gesellschaftliche Relevanz mehr haben?

Mehrheit war für Verjährung

Die Antwort der Staatsanwälte ist eindeutig: Sie führen diese Prozesse, weil der Gesetzgeber sie dazu verpflichtet hat. Mord, zu dieser Entscheidung kam der Bundestag 1979, verjährt nicht. Es ist bemerkenswert, dass damals eine Mehrheit der Bevölkerung für eine Verjährungsregel eintrat – damit wären die Verbrechen der NS-Zeit nicht mehr verfolgbar gewesen. Die Politik entschied anders und später ist dieser Moment als Sternstunde des Parlaments gefeiert worden.

Aber die Verfolgung der NS-Verbrechen war in der Praxis – und der politischen Begleitung – alles andere als umfassend. Die Verbrechen der Justiz selbst blieben weitestgehend ausgespart, kein Jurist hackte dem anderen ein Auge aus. Die Urteile gegen viele Täterinnen und Täter aus der Wehrmacht, den Vernichtungslagern und den Euthanasie-Tötungsanstalten fielen milde aus.

Wer überhaupt vor Gericht gestellt wurde, war oft dem Zufall überlassen

Häufig wurde nicht wegen Mordes, sondern wegen Beihilfe zum Mord angeklagt. Nach einer Novelle des Strafgesetzbuches von 1968 galt für solche Angeklagte, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, dass sie „niedrigen Motive“ der Haupttäter teilten, ein Strafrahmen von lediglich drei bis 15 Jahren.

Hinzu kam: wer überhaupt vor Gericht gestellt wurde, war oft dem Zufall überlassen. Der Ulmer Prozess wegen der Ermordung von 5.502 jüdischen Kindern, Frauen und Männern im litauisch-deutschen Grenzgebiet war einem Zufall zu verdanken: ein daran beteiligter SS-Mann hatte das Regierungspräsidium Nordwürttemberg auf Wiedereinstellung verklagt, nachdem er entlassen worden war, als aufflog, dass er bei seiner Einstellung falsche Daten angegeben hatte.

Als über den arbeitsrechtlichen Prozess in der Presse berichtet wurde, erkannte ein Zeitzeuge der Massaker den früheren SS-Mann. Die Urteile im dann folgenden Ulmer Prozess? Statt, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert wegen Mordes, wurden die Haupttäter wegen Beihilfe zum Mord verurteilt: zu Freiheitsstrafen zwischen drei und 15 Jahren.

Um die Zufälligkeit der Strafverfolgung wenn nicht zu beenden, so doch zu verringern, richtete man die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg ein. In den Anfangsjahren wurde sie geleitet von Erwin Schüle, der zurücktreten musste, als seine SA- und NSDAP-Mitgliedschaft bekannt wurde.

Kritische Stimmen sagen, dass mit Ludwigsburg eine Einrichtung geschaffen wurde, der die Politik durch die engen Kompetenzgrenzen nicht die Möglichkeit gab, ihre Aufgabe zu erfüllen: es ist eine reine Vorermittlungsstelle, die auf die Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften angewiesen ist. Sie selbst darf keine Anklage erheben.

Teil der Vernichtungsmaschinerie

Das Jahr, in dem die Grundlage gelegt wurde für die späten NS-Prozesse, die jetzt geführt werden, ist 2015. Denn das Landgericht Lüneburg unterschied nicht, wie vorher üblich, zwischen dem Dienst in einem reinen Vernichtungslager wie Sobibor oder einem wie Auschwitz, das zugleich KZ und Vernichtungslager war. Mit Oskar Gröning, dem sogenannten Buchhalter von Auschwitz, wurde ein SS-Mann aus einem solchen Lager wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, ohne dass ihm eine konkrete Einzeltat nachgewiesen werden musste. 1969 wäre auf dieser Grundlage kein Urteil möglich gewesen. Damals musste das Gericht den Beschuldigten eine Einzeltat nachweisen. Was in der Praxis oft unmöglich war: zu ungenau waren die Erinnerungen vor allem der Opfer. Und von Täterseite war wenig Hilfe bei der Aufklärung zu erwarten.

Nun wird anders verfahren. Und eben das scheint mir der Kern der Irritation zu sein, die die Prozesse mit sich bringen. Es ist keine inhaltliche Irritation, etwa weil das Konzept der Zugehörigkeit zu einer Vernichtungsmaschinerie nicht überzeugte. Sondern eine grundsätzlichere, die einem zugestandenermaßen naiven Verständnis von Justiz geschuldet ist, nämlich dem, dass sie unwandelbar ist und unangefochten vom Zeitgeist. Wie kann es sein, dass man innerhalb von zehn Jahren von der Auffassung, dass Mord verjährt, zur gegenteiligen Auffassung kommt? Warum hält man jahrzehntelang in Verfahren, die denen gegen Gröning vergleichbar sind, den Einzeltatnachweis für notwendig und erkennt nun, dass „funktionelle Beihilfe“ Grundlage genug ist für die Strafverfolgung?

Rechtsprechung gehört zum Zeitgeist

Rechtssprechung ist wandelbar, und damit bekommt sie den Ruch des Willkürlichen. Und diese Wandelbarkeit beschränkt sich nicht auf den fernen Saal, in dem die NS-Männer angeklagt werden. Recht bestimmt, wann Leben beginnt und wann es endet. Es bestimmt, was eine nicht strafbare Abtreibung und was strafbare Tötung ist, ob jemand lebendig oder tot ist. Rechtsprechung ist unentrinnbar Teil des Zeitgeistes, und dass kann je nach Sicht mutlos oder hoffnungsvoll machen.

Teil des Zeitgeistes war das Argument in der Verjährungsdebatte von 1965, demzufolge man wegen der vorzeitige Entlassung von NS-Tätern durch die Alliierten ohnehin schon mit Massenmördern lebe. Teil des Zeitgeistes ist heute die Auffassung, dass es von Bedeutung ist, den Opfern als Nebenklägern eine Stimme zu geben. Und daneben gibt es die blinden Flecken, die Ungereimtheiten, die man nicht erkennt, weil einem der Abstand dazu fehlt. Und solche, die man nicht benennt, weil einem der Mut fehlt, von der Mehrheitsmeinung abzuweichen.

Es ist kaum möglich, das Zusammenspiel von juristischer Praxis und Zeitgeist nachzuzeichnen. Fragt man Juristinnen und Juristen danach, so sagen sie gleichermaßen lapidar und schlüssig, dass in den Urteilsbegründungen nichts stehe, was über das Juristische hinausginge. Von daher ist also kein Aufschluss zu erwarten.

Und fragt man, wie es zum Urteil gegen John Demjanjuk kommen konnte, dann heißt es, dass das Interesse und die Hartnäckigkeit einzelner StaatsanwältInnen dafür gesorgt habe. Wie aber auch die Prozesse gegen die Zuträger der Anschläge von 9. 11., die den Blick für die Arbeitsteiligkeit beim Verüben großer Verbrechen geschärft hätten. Die Einflüsse mischen sich, individuelle, strukturelle und vermutlich steht man bei ihrer Betrachtung noch viel zu nah vor dem Bild, um etwas über seine Komposition sagen zu können.

Es spielt keine Rolle, wie viele Leute im Zuschauerraum sitzen

Die Medien haben groß über den Prozess gegen John Demjanjuk und fünf Jahre später über den gegen Oskar Gröning in Lüneburg berichtet. Vielleicht ist die Pressekarawane jetzt weitergezogen und die letzten Prozesse finden vor allem das Interesse einer kleinen Gruppe von Juristen – so empfinden es zumindest einige der Beteiligten. Die in ihrem Bekanntenkreis gelegentlich gefragt werden, ob hier nicht Energie und Steuergelder verschwendet würden. Aber, und das ist die Stelle, an der die Justiz in beruhigender Weise der Gesellschaft enthoben ist, es spielt eben keine Rolle, wer und wie viele Leute im Zuschauerraum sitzen.

Wer die Verfahren verfolgt, erhält eine Lehrstunde darin, das auszuhalten, was die Juristen „Keine Gleichheit im Unrecht“ nennen – nur weil A. der gerechten Strafe entging, hat das keine Bedeutung für B.s Strafe. Wie kann es sein, dass der Kommandant von Stutthof 1957 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt und daraus nach drei Jahren entlassen wurde? Ungefähr das hat der nun angeklagte frühere Wachmann aus Stutthof einen Staatsanwalt gefragt. Wenn es nach mir ginge, wäre er für den Rest seines Lebens in Haft gewesen, antwortete der Staatsanwalt.

Diese Prozesse bieten einen Anlass, darüber nachzudenken, warum und dass es keiner Gesellschaft zu gelingen scheint, eine kollektive Schuld dann abzutragen, wenn es wirklich weh tut: unmittelbar danach, wenn die Angeklagten verhandlungsfähig sind und die Beweislage gut. Dann, wenn die Mitte der Gesellschaft die Folgen spürt, ganz hautnah, weil es die Mitte der Gesellschaft ist, gegen die verhandelt wird. Die 6.500 Wachleute von Auschwitz nach 1945 vor Gericht hätte etwas anderes bedeutet, als heute 30 zu belangen.

Wo bin ich Teil eines Systems, das Unrecht tut?

Kann man überhaupt Schlüsse ziehen aus den späten Prozessen für die Gegenwart? Muss man es? Prozesse als politische Bildungsarbeit sozusagen, die fragen lassen, wo stehe ich heute, wo bin ich Teil eines Systems, das Unrecht tut?

Die Juristen reagieren darauf sehr zurückhaltend. Wie immer man zur Not der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer stehe, sagt einer, es sei eine andere Dimension als die Vernichtung durch das NS-Regime. Man kann die Prozesse zum Anlass nehmen, zu fragen, wo man Ähnlichkeit mit den Angeklagten hat. Menschen, die, so sagt es einer der Staatsanwälte, in der Öffentlichkeit zunehmend wenig diabolisiert würden. Es sind nicht mehr die fernen Monster, deren Untiefen nichts mit den eigenen zu tun haben. Man kann den Erörterungen folgen, welche Angst berechtigt war, welcher Widerstand in einem Maß zu erwarten ist, dass man sich strafbar macht, wenn man passiv bleibt.

Die Gerichte entscheiden darüber und es ist keine Aufgabe, um die man sie beneiden würde. Sie tun ihre Arbeit in der Zeitverhaftetheit, in der wir alle leben. Wir können ihr kaum entkommen, aber wir sollten um sie wissen.

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16 Kommentare

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  • Tolles Bild! Als wäre Auschwitz unmittelbar vor der Gerichtstür. Da ist nichts dran montiert?



    Und der Artikel ist sehr gut recherchiert und durchdacht. Danke!

  • Schon Erich Mielke wurde wegen einem Mord in den 20ern verurteilt.

    Das Problem ist natürlich, dass der Sinn der Strafe die "Resozialisierung" ist, und das haben die Leute meisten in ihrem Leben vorbildlich hingekriegt.

    Die Zeit der großen Schweinehunde ist vorbei, jetzt werden die wenigen verblieben niedere Chargen abgeurteilt. Schon Groening war ja mehr ein Zeuge gegen andere Täter. Die Leute sterben weg, eher höchstrichterlich die Praxis gekippt werden kann, Menschen wegen der Anwesenheit am Ort des Geschehens und Mitgliedschaft strafrechtlich zu verurteilen. Das ist juristisch nämlich schon recht fishy und erst seitdem es Präzedenzfälle gibt kann man die Leute aburteilen.

  • die viel zu späte und halbherzige verfolgung drittklassiger täter hat natürlich nur einen sinn als ouvertüre zu einem radikalen vorgehen gegen rechten abschaum jeder sorte. dass dazu allerorten der wille fehlt ist leider nur zu wahr.

  • Ich sehe einen ganz anderen Grund für mein Unbehagen bei diesen Prozessen.

    Die Prozesse werden von einem Staat angestrengt, und zwar nicht irgendeinem Staat, sondern von dem selben Staat, dessen Beamte den NSU beschützt und unterstützt haben, bei der NPD für gefühlt mehr als 50% der gesamten politischen Aktivität verantwortlich sind, und die auch sonst immer wieder durch rechtsextremistische Einlassungen und Handlungen auffallen, die eines zivilisierten Landes schlicht unwürdig sind.

    Die Strafverfolgung dieser "alten Männer" ist daher eben gerade nicht dem Zwang geschuldet - der besteht nämlich auch bei der Strafverfolgung von Beamten, die den NSU unterstützt haben. Die Staatsanwaltschaften können sehr wohl auswählen, welche Taten sie verfolgen und für welche sie leider leider keine Zeit haben.



    Vielmehr findet meines Erachtens die Strafverfolgung mit dem Ziel statt, ein Feigenblatt zu liefern, um sagen zu können "Was, wir? Nazis? Aber nicht doch, seht nur, wir haben da doch mal ein paar alte Männer verurteilt." Das ganze ist meiner Meinung nach nicht mehr als Whitewashing, mit dem Ziel, von den aktuellen Nazi-Problemen abzulenken.

    (Dabei sei unbenommen, dass der einzelne hier aktive Staatsanwalt kein Rechtsextremist sein mag - aber dass er diese Arbeit macht statt aktuelle Nazi-Verbrechen zu verfolgen, das wurde augenscheinlich von Rechtsextremisten entschieden.)

    • @kleinalex:

      Sehr wahr.

  • der sinn von strafrecht ist strafe für verbrechen. verstehen ist notwendig; verständnis für verbrechen ist allerdings selbst eins. ein ungutes gefühl gibt es nur da die allermeisten täter ihrer mehr als gerechten strafe entgangen sind.

    • @kipferl:

      Kriminologie und Soziologie würden eher sagen, Strafe dient der Resozialisierung und der Generalprävention. Der Grundtendenz des Beitrags kann ich aber nur Beipflichten. Ein ungutes Gefühl sollte uns in der Tat beschleichen, wenn uns ein angebliches Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot mehr beschäftigt als das völlige Versagen der deutschen Nachkriegsjustiz.

  • 8G
    83492 (Profil gelöscht)

    Ich habe da noch einen Widerspruch im Kopf, den ich nicht aufgedröselt bekomme.



    Es gilt in Deutschland das Rückwirkungsverbot.

    "Das Rückwirkungsverbot sagt aus, dass zu einem späteren Zeitpunkt erlassene Gesetze nicht auf einen früher stattgefundenen Sachverhalt angewendet werden dürfen.



    ...



    Im Strafrecht gilt das absolute Rückwirkungsverbot. Was zur Zeit der Tatbegehung nicht strafbar war, kann nicht im Nachhinein mit Strafe bedroht werden."

    War das Verhalten der Wachmänner/frauen vor 1945 auch schon strafbar, oder ist das Rückwirkungsverbot dann doch nicht so absolut, wie in [1] behauptet?

    [1] www.juraforum.de/l...ueckwirkungsverbot

    • @83492 (Profil gelöscht):

      Mord war schon immer strafbar, Beihilfe dazu auch.

      Wenn Gesetze der NS-Zeit nachträglich als verfassungswidrig erkannt wurden (weiß ich nicht), würden die entsprechenden Gesetze der Weimarer Republik als gültig angenommen.

    • 7G
      75064 (Profil gelöscht)
      @83492 (Profil gelöscht):

      Dazu passt die sog. Nürnberger Klausel, die besagt, dass trotz fehlender geschriebener Strafregeln eine Tat bestraft werden kann, "die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war."



      Wie der Name schon sagt, wurde sie im Zuge der Nürnberger Prozesse entwickelt und relativiert das Rückwirkungsverbot in der Tat.

      • 8G
        83492 (Profil gelöscht)
        @75064 (Profil gelöscht):

        Danke für die Antwort. Habe dann selber noch etwas gesucht und bin auf

        de.wikipedia.org/w...mel#Nachkriegszeit

        gestoßen. Fazit: wenn Juristen "für alle" und "gilt immer" sagen, sollte das nicht zu wörtlich genommen werden.

      • @75064 (Profil gelöscht):

        Dogmatisch gesehen liegt hier kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor. Vielmehr hat sich die Rechtsprechung letztlich dazu durchgerungen das geltende Recht anzuwenden (wie an anderer Stelle auch). Zum Beispiel hatte der BGH kein Problem damit, in Fällen der organisierten Kriminalität auf einen konkreten Tatbeitrag des Hintermanns bzw. Bandenchefs zu verzichten, um eine Mittäterschaft anzunehmen. Ausgereicht hat nach der vom BGH vertretenen sog. Animus Theorie, irgendeinen (z.B. auch nur planerischen) Beitrag zu der Tat zu leisten und der Wille des Bandenchefs, den Erfolg der Tat als eigene zu wollen.



        Eine Verurteilung der NS-Verbrecher wären auch ohne Nürnberger Klausel und ohne Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot nach deutschem Strafrecht wegen (mittäterschaftlich begangenem) Mord, Totschlag und Beihilfe dazu möglich gewesen, hätte nicht der BGH in letzter Instanz völlig abwegige Kriterien an einen konkreten Tatnachweis bei NS Verbrechern verlangt.

        Letztlich ist die Justiz eben nicht unabhängig, wie gerne propagiert. Die Staatsanwaltschaften sind den Justizministerien unterstellt und weisungsgebunden. Die Richter sind zwar unabhängig, letztlich aber auch nur ein Spiegel des Gesellschaft. Wer sich die Besetzung des BGH nach 1945 anschaut, der hat keine Fragen mehr. In der Justiz gab es in den 50er und 60er Jahren mehr Beamte mit NSDAP Mitgliedschaft als vor 45, weil aus den ehemaligen Ostgebieten geflüchtete eingestellt und die Entnazifizierung bewusst sabotiert wurde. Der Gesetzgeber hat fleißig zu dieser Entwicklung beigetragen, indem er die Gesetzeslage entsprechend angepasst hat.

  • Viele Fragen der Autorin und vielleicht auch der Leser*innen dieses Artikels dürfte diese Lektüre beantworten: Furchbare Juristen von Dr. Ingo Müller, siehe www.amazon.de/Furc...cher/dp/3426039605

    Eine absolute Pflichtlektüre um zu verstehen, wieso die Nazis sich auf die Justiz verlassen konnten und wieso die Justiz nach 1945 davon absah, die NS verbrechen mit den Mitteln des Strafrechts aufzuarbeiten.

  • Gute Einlassung. Aber die Zweifel ergeben sich noch aus einem weiteren Grund, der nicht thematisiert wird. Der Wachmann war zur Tatzeit ein Jugendlicher der in einem damals gültigen Rechtsraum Und Zwangsraum) agierte. Nur wenige dürften geistig und real in der Lage gewesen sein, dass auszublenden, Feindsender zu hören und sich an von anderen propagierte Menschenrechte zu orientieren.



    Da hinterlässt ein sich wandelndes Rechtssystem dann doch einige Fragen, auch wenn eine Aufklärung unbedingt notwendig ist.

  • Es ist ja nicht die Schuld der alten Männer, sondern die Schuld von Jugendlichen. Zwiegespalten sehe ich diese Prozesse vor allem weil die Täter zwar technisch gesehen schuldig, im Sinne der Anklage sind, damals aber kaum eine echte Wahlfreiheit hatten. Wer 1945 erst 17 war, der war zur Machtergreifung 5 und wurde spätestens mit dem Schuleintritt der Propaganda der Nazis ausgesetzt. Wenn man dann vor die Wahl gestellt wird entweder Wache in einem KZ zu schieben oder einen mehr oder minder sicheren Tod im Krieg zu finden dann dürfte die Wahl den meisten nicht allzu schwer gefallen sein und das nachvollziehbarerweise. Wer von sich selber gerne denkt er wäre selbstredend Teil des Widerstands geworden dem lege ich eine Rückbesinnung auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung nahe. Wer in der Gegenwart sozialisiert wird der denkt natürlich anders als die Deutschen es in der Zeit der Nazis getan haben, dass nicht zu vergessen erfordert nur ein Minimum an Selbstreflektion.

    Der Vergleich mit den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer wirkt völlig deplatziert. Die Flüchtlinge machen sich aus freien Stücken auf den Weg nach Europa, sie könnten stattdessen auch in Nachbarländer fliehen und das tun die meisten ja auch. Ins KZ ist hingegen niemand freiwillig gegangen.

    • @Januß:

      Wahrscheinlich wird die Verteidigung den Punkt des Alters zur Tatzeit auch vorbringen.

      Bei allem, und ganz gewiß, Erwachsene, die sich zur SS gemeldet und dann in KZs Dienst taten, müssen auch im Alter entsprechend verurteilt werden.



      Zur Tatzeit Jugendliche sind entsprechend ihrem Alter und der daraus möglichen Einsicht und den existierenden Freiheitsgraden zu beurteilen auch wenn Sie heute über 90 sind.