NS-Euthanasie aufarbeiten: „Die Anerkennung blieb aus“
Menschen mit Behinderungen, die die Nazis ermordeten oder sterilisierten, sind bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt. Der Bundestag will das ändern.
taz: Herr Grundl, Sie bringen am Donnerstag einen fraktionsübergreifenden Antrag zur Aufarbeitung von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation in den Bundestag ein. Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Antrag?
Erhard Grundl: Schätzungsweise 300.000 Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen wurden während der NS-Zeit ermordet, 400.000 wurden zwangssterilisiert. Dass diese explizit als NS-Opfergruppe benannt werden, ist ein Versprechen des Koalitionsvertrags, das wir einlösen wollen. Meinen persönlichen Impuls dazu hat mir eine Inschrift auf der Gedenkstätte des heutigen Bezirksklinikums Mainkofen in Niederbayern gegeben. Auf einer der Gedenktafeln stand, den Opfern sei zwar Mitgefühl und Anerkennung entgegengebracht worden; „eine Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus blieb aber aus“. Und das hat mich angetrieben.
61, ist seit 2017 Bundestagsabgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen. Er ist Sprecher seiner Fraktion für Kultur- und Medienpolitik.
Was haben Sie vor?
Wir fordern von der Bundesregierung ein Projekt, um die Akten sowohl der Patienten wie auch der Täter zu sichern und der Forschung zugänglich zu machen. Außerdem soll es eine Fachtagung geben, die sich unter anderem mit der Unterstützung Betroffener und der Verankerung der NS-„Euthanasie“ etwa in der Bildung oder auch der medizinischen Ausbildung befasst. Und wir fordern, dass die Gedenkstätten an den Orten der ehemaligen „T4“-Tötungsanstalten auch in Zukunft nachhaltig unterstützt werden.
Fast 80 Jahre sind seit dem Ende des Nationalsozialismus vergangen. Warum kommen die Bemühungen so spät?
Das stimmt. Es ist eine Katastrophe, dass es so lange gedauert hat. Gleichzeitig passt es leider gut in die Zeit, wenn ein Björn Höcke davon spricht, dass Menschen mit Behinderung nicht in die Regelschule gehen sollen, weil sie andere beim Lernen aufhalten. Die von den Rechtsradikalen im Bundestag befeuerte Debatte darüber, wer ein „nützliches“ Mitglied der Gesellschaft sei, zeigt leider: Eine kontinuierliche Aufarbeitung braucht es noch viele Jahre im Nachhinein. Erinnerungskultur ist nicht nur wichtig als Erinnerung, sondern auch, um Mechanismen zu erkennen, die zu einem totalitären Regime geführt haben.
Was sagen die Betroffenen selbst?
Überlebende – und da muss ich mich auf die Auskünfte aus den Gedenkstätten berufen – gibt es nur noch eine Handvoll. Aber es geht auch darum, dass deren Familien Gerechtigkeit erfahren.
Was wünschen sich Familien und Angehörige der Opfer?
Für die Familien ist das alles Entscheidende, dass ihre ermordeten Angehörigen als Opfergruppe des Nationalsozialismus anerkannt werden. Deshalb stand das auch für mich immer im Mittelpunkt.
Es gibt schon länger Kritik daran, dass eine Anerkennung der „Euthanasie“-Opfer durch das Bundesentschädigungsgesetz bis heute ausbleibt. Warum finden sich keine Reformvorschläge dazu in Ihrem Antrag?
Ich kann nur sagen, dass es mich sehr freut, dass die Union den Antrag mit stellt. Bei Themen, die den Nationalsozialismus betreffen, ist es wichtig, eine breite Unterstützung im Parlament zu finden. Wir wollten zwar, dass Opfer im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes anerkannt werden. Aber im aktuellen Antrag ist das nicht geregelt, das stimmt.
Soll Erinnerungskultur, zum Beispiel die Gedenkstätten, auch finanziell stärker gefördert werden?
Da formuliere ich jetzt einfach nur Erwartungen an das Gedenkstätten-Konzept, das ja in dieser Wahlperiode noch kommen wird und auch im Koalitionsvertrag steht. Zentraler Bestandteil davon werden die Fragen nach zukünftiger Finanzierung sein. Unsere Erinnerungskultur ist nicht nur wichtig als Erinnerung, sondern auch, um Mechanismen erkennen zu können, die in der Geschichte bereits zu einem totalitären Regime geführt haben. Auch angesichts der aktuellen Haushaltslage gilt: Ein Gedenkstätten-Konzept für lau ist nicht machbar. Das ist ganz klar.
Soll sich der Antrag auch positiv auf die Lage von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen heute auswirken?
Auf jeden Fall. Die Diskussion um „lebensunwertes Leben“ wird von antidemokratischen Kräften heute wiederholt, wenn auch vielleicht subtiler. Die Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung ist auch mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht vorbei. Das treibt Menschen mit Behinderung und ihre Initiativen auch heute um. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir die Forderungen des Antrags – etwa bei der Sicherung der Akten – ausdrücklich in Zusammenarbeit mit Verbänden von Menschen mit Behinderungen sowie Vertreterinnen und Vertretern der Disability Studies vorantreiben.
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