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NGO-Mitarbeiterin über Krieg im Libanon„Der Albtraum für die Kinder ist noch nicht vorbei“

Bei den Angriffen auf die Hisbollah starben mehr als 4000 Menschen. Rasha Chedid, erklärt, wie man mit Kindern über traumatische Ereignisse spricht.

Schöner Schein: Die Kinder leben in einem Flüchtlingscamp am Strand von Beirut. Über ihnen fliegt eine Kampfdrohne Foto: Daniel Etter/laif
Julia Neumann
Interview von Julia Neumann

taz: Nach dem 7. Oktober 2023 hat Israel seine Angriffe auf die Hisbollah im Libanon verstärkt. Das hat vor allem auch die Zivilbevölkerung getroffen. Über 4.000 Menschen wurden getötet. Im Oktober ist das israelische Militär in den Libanon einmarschiert, seit dem 27. November gibt es einen temporären Waffenstillstand. Wie geht es der Bevölkerung heute?

Rasha Chedid: Der Krieg hatte 1,2 Millionen Menschen aus ihren Häusern vertrieben, darunter 400.000 Kinder. Viele Familien haben ihr Zuhause, ihre Lebensgrundlage und ihre Angehörigen verloren. Schulen wurden zu Notunterkünften umfunktioniert, sodass viele Kinder keinen Zugang zu Bildung hatten. Mittlerweile sind zwar viele in ihre Häuser zurückgekehrt, aber rund 113.500 Menschen leben weiterhin außerhalb ihrer Heimatorte. Diese Familien haben oft keinen Ort, an den sie zurückkehren können. Selbst Kinder sind gezwungen, arbeiten zu gehen, um zu überleben.

taz: Wie geht es den Kindern, die in ihre Dörfer zurückkehren?

Rasha Chedid: Die meisten Häuser sind zerstört. Überall können nicht explodierte Sprengkörper liegen. Das ist eine große Gefahr. Die Infrastruktur für die Wasserversorgung ist beschädigt. Viele Kinder können nicht in die Schule, was ihre psychische Gesundheit und ihr Wohlbefinden beeinträchtigt.

Im Interview: Rasha Chedid

amtierende Landesdirektorin und Finanz- und IT-Direktorin von Save the Children Libanon. Ihre Aufgabe ist es sicherzustellen, dass die Gelder der Organisation effektiv eingesetzt werden, um lebensrettende Programme durchzuführen und die Rechte der Kinder im Libanon zu wahren. Sie arbeitet daran, langfristige Lösungen für Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu schaffen

taz: Wie ist die Lage im Südlibanon, der besonders stark zerstört ist?

Rasha Chedid: Marktplätze und Geschäfte sind zerstört, das erschwert den Zugang zu Grundnahrungsmitteln und Wasser. Die Schulen sind nicht in Betrieb, und die Kinder haben angesichts der weit verbreiteten Zerstörung um sie herum mit psychischen Problemen zu kämpfen. Alles Vertraute ist zerstört, wie Spielplätze und Orte, an denen sie sich mit Freunden trafen.

taz: Ist der Krieg vorbei?

Rasha Chedid: Es gibt derzeit einen Waffenstillstand, aber die israelische Armee verstößt immer wieder dagegen. Zum Beispiel gibt es die Einigung, dass die israelischen Streitkräfte sich aus den Dörfern zurückziehen, damit die Vertriebenen sie betreten können. Doch das macht sie nicht überall. Die Menschen brauchen immer noch Hilfe. Der Albtraum für die Kinder ist noch nicht vorbei.

taz: Wie helfen Sie Kindern und Familien?

Rasha Chedid: Wir verteilen lebenswichtige Dinge wie Matratzen, Decken und Winterkleidung. Wir verbessern die Wasserversorgung und reparieren sanitäre Einrichtungen, geben Bargeld und Nahrungsmittel aus.

taz: Wie berücksichtigen Sie mentale Gesundheit?

Rasha Chedid: Wir integrieren psychosoziale Dienste in alle unsere Programme und bieten Kindern und Betreuenden psychosoziale Unterstützung. Zum Beispiel gestalten wir kinderfreundliche Räume mit Spielzeug oder Bastelmaterial. Dort bekommen sie auch emotionale und pädagogische Unterstützung.

taz: Wie gehen Sie mit Traumata um?

Rasha Chedid: Kinder zeigen Anzeichen von Stress wie Hyperaktivität, Rückzug, Aggression oder Pa­nik­attacken. Unsere Programme gehen auf diese Verhaltensweisen ein. Wir bieten ein sicheres Umfeld, in dem Kinder ihre Gefühle ausdrücken und die emotionale Belastung verarbeiten können, die durch die örtliche Vertreibung entstanden ist.

taz: Sind diese Anzeichen mit dem teilweisen Waffenstillstand zurückgegangen?

Rasha Chedid: Das hängt vom Kind und dem Ort ab. Insgesamt kann man sagen, dass die sich überlagernden Krisen – wirtschaftlicher Zusammenbruch, Corona, die Explosion in Beirut im Jahr 2020, Cholera und jetzt der Krieg – die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Kinder stark beeinträchtigt haben. Die Schulausbildung ist nun bereits seit über sechs Jahren unterbrochen. Das ist ein großes Problem.

taz: Welche Bewältigungsstrategien gibt es für Eltern?

Rasha Chedid: Wir ermutigen Eltern, ihren Kindern zuzuhören. Wir schlagen ihnen vor, Räume zu schaffen, in denen die Kinder ihre Gefühle ausleben und ausdrücken können. Zu akzeptieren, dass es normal ist, wenn Kinder Wut oder Kummer zeigen und weinen. Für die psychische Gesundheit der Kinder sollten ihre Grundbedürfnisse befriedigt sein, und es sollte Freizeitaktivitäten wie Malen oder Spielen geben. Und natürlich brauchen die Menschen die Unterstützung der Gemeinschaft, gegenseitige Hilfe.

taz: Was haben Sie von den Kindern gelernt?

Rasha Chedid: Kinder sind anpassungsfähig und hoffnungsvoll, oft optimistischer als Erwachsene. Sie inspi­rieren uns mit ihrer klaren Vision für die Zukunft. Sie sagen, dass sich die Dinge ändern werden. Es ist wirklich schön, diese Einstellung zu sehen.

Kinder im Krieg: Alles Vertraute ist zerstört. Im Bild spielen Kinder im Dezember 2024 in Mansouriyeh, Südlibanon, zwischen Trümmern Foto: Thaier Al-Sudani/reuters

Drei Protokolle von Eltern

„Am meisten vermisse ich mein Zuhause“

„Es ist sehr schwer, eine Mutter mit drei kleinen Kindern zu sein. Ich denke nicht an mich, ich denke nur an sie. Ich möchte sie vor allem schützen, was passiert. Jetzt sind wir schon eine ganze Weile hier. Ich wusste, dass wir an einen Ort kommen, an dem es schwieriger ist, als im Dorf. Aber das Wichtigste sind die Kinder. Ihretwegen sind wir hierhergekommen. Keiner verlässt sein Haus einfach so.

Die Kinder wissen, dass wir uns im Krieg befinden. Sie verstehen, was vor sich geht. Sie hören die Geräusche, den Überschallknall, dann kommen sie zu mir und erzählen mir, was sie gesehen oder gehört haben: Hier war ein Geräusch, dort wird angegriffen, dort gibt es Märtyrer, „Mama, schau mal auf die Straße, da sind Menschen, die keinen ruhigen Platz zum Bleiben finden“, sagen sie zum Beispiel. Es gibt eine Menge Dinge, die sie wissen, die sie um sich herum sehen. Sie hören es auch von anderen Kindern. Wir sprechen nicht über alles mit ihnen oder vor ihnen, damit sie keine Angst bekommen. Wir sagen ihnen: „Das ist nichts, Liebes, morgen wird alles besser sein, der Libanon wird besser sein.“ Wir vereinfachen die Dinge, damit sie sich nicht so viele Sorgen machen.

Mit meinen Sorgen wende ich mich an Gott. Er ist meine Stütze, mein Retter. Er tröstet mich. Keiner kann mir geben, was Gott mir gibt. Letztendlich sorgt Gott für mich. Keiner fühlt sich mehr sicher. Wir alle haben Angst. Woher nehmen wir all diese Kraft? Es gibt niemanden außer Gott, der dir Kraft und Geduld geben kann. Was wir jetzt erleben, ist unglaublich.

Ich bin kein besonders ängstlicher Mensch. Selbst als wir im Dorf waren und wenn wir den Überschallknall der Raketen hörten. Ich habe mich an die Kinder gewandt, sie beruhigt und gesagt: „Nicht so schlimm, meine Lieben.“ Ich versuche, in ihrer Nähe stark zu sein. Aber natürlich ist es dann doch etwas anderes, wenn ein schwerer Angriff passiert, eine Bombe oder Rakete neben dir einschlägt. Dann möchte man fliehen.

Gott sei Dank haben wir unser Dorf verlassen, bevor die Angriffe in unsere Nähe kamen. Vor ein paar Tagen wurde unser Dorf getroffen, und mindestens zehn Märtyrer, Männer und Frauen, starben. Wäre ich im Dorf gewesen, hätte ich die Einschläge sicher hautnah miterlebt und mehr Angst gehabt.

Bevor wir fliehen mussten, war unser Leben sehr ruhig. Wir hatten ein schönes Haus, in dem wir uns sehr wohlgefühlt haben, die Kinder gingen in den Garten, sie spielten und trafen ihre Freunde. Nichts hat uns gestört oder belästigt. Alles war gut – Gott sei Dank. So wie es eben für die meisten Menschen ist.

Am meisten vermisse ich natürlich mein Zuhause. Ich bin ein sehr häuslicher Mensch. Wir hatten keine Probleme oder Streitereien mit den Nachbarn. Die meiste Zeit habe ich zu Hause mit den Kindern verbracht. Ich vermisse die Ruhe dieser Momente. Das ist es, was ich hier nicht habe und was ich mir hier wünschte.

Es macht mir zu schaffen, mich weit weg der Heimat und fremd zu fühlen. Wir leben zusammen mit Leuten, die wir nicht kennen. Wir sind jetzt drei Familien, vorher waren wir vier. Die Leute kommen und gehen. Ich muss mich vor den Augen der Männer bedecken, wir können uns nicht ständig waschen und auch unsere Kinder nicht waschen. Das sind die Alltäglichkeiten, die mir Stress bereiten.

Die Kinder haben sich leider verändert. Vor allem in Bezug auf Disziplin und Pünktlichkeit. Zu Hause waren sie brav und gehorsam. Wenn ich sie gerufen habe, sind sie gekommen. Sie hatten eine Struktur und Routine. Sie hatten eine bestimmte Zeit, zu der sie ins Bett gegangen sind, eine Zeit fürs Essen; das Essen kam immer rechtzeitig auf den Tisch. Jetzt kommen sie einfach und sagen: „Mama, ich will mit meinen Freunden spielen, anstatt die Hausaufgaben zu machen.“ Ich habe ein anderes Kind beobachtet, das nicht auf seine Eltern reagiert hat.

Was die Erziehung vielleicht noch schwieriger macht, ist, dass die Kinder von anderen Kindern oder Erwachsenen beeinflusst werden: Sie schnappen auf, was sie sagen und orientieren sich daran, was sie tun.“

Lina, 36 Jahre alt, Mutter von drei Kindern im Alter von 5, 7 und 12 Jahren. Die Familie lebte in einem Dorf im Süden des Libanons und ist jetzt in einer Sammelunterkunft im Norden untergebracht. Das Protokoll entstand zur Zeit in der Notunterkunft mit Unterstützung von Save the Children.

„Ich bin viel schneller gereizt“

„Ich bin alleinerziehender Vater einer dreijährigen Tochter. Als Alleinerziehender ist es sowieso nicht so einfach. Im Libanon gibt es wenige öffentliche Orte oder Aktivitäten für Kinder, die kostenlos sind. Und dann richten sich die meisten Angebote an Mütter. Als Mann kann ich auch keine Windeln auf öffentlichen Toiletten wechseln. Wenn es Wickeltische gibt, dann in den Frauenkabinen.

Ich wünsche mir für meine Tochter eine unbeschwerte Kindheit. Aber das ist nicht möglich. Diesen Sommer hatte die Vorschule wegen des Kriegs geschlossen. Aus Angst bin ich nicht mal mit meiner Tochter an den Strand gefahren.

Im Sommer hatte ich mit ihr eine Art Aufklärungsgespräch – über den Überschallknall. Das hört sich an wie richtige Bomben. Wir kennen Schüsse und Feuerwerkskörper von feierlichen Anlässen. Meine Tochter kennt daher laute Geräusche. Aber dieses Mal war es so, dass sie Angst bekam, weinte und zu mir rannte. Auch unser Hund drehte durch. Also habe ich sie gehalten, sie getröstet. Ich habe ihr gesagt, dass sie keine Angst haben muss. Dann habe ich ihr erklärt, dass das ein Flugzeug am Himmel ist. Wenn es schnell fliegt, macht es das laute Geräusch. Wenn sie das Geräusch dann hörte, sagte sie zu mir: „Papa, ein schnelles Flugzeug!“

Es war nicht das erste Gespräch. Vergangenes Jahr hatten wir schon ein Erdbeben, das unser Gebäude erschüttert hat. Da war sie jünger und ich glaube nicht, dass sie wirklich verstanden hat, dass die Erde wackelt. Ich habe am Bett gerüttelt und gesagt: „Siehst du, du brauchst keine Angst zu haben.“ Dann habe ich sie geschüttelt und den Vorhang und die Lampe, um ihr zu zeigen: Dinge können wackeln und es ist okay. Dann musste ich ihr das mit den Raketen und Bomben beibringen.

Solche Dinge erklären zu müssen, da fühlt man sich hilflos. Ich fühle mich klein, unbedeutend. Es gibt keine Sicherheit, und ich kann keine Sicherheit geben. Krieg bedeutet Stress: Ich bin viel schneller gereizt, verliere die Geduld, schnauze meine Tochter an. Ich bin die ganze Zeit kurz davor, meine Nerven zu verlieren. Ganz schlimm war es, wenn sie nicht bei mir, sondern selten mal bei ihrer Mutter war. Ich habe dann überlegt: Wenn jetzt etwas passiert, wie kann ich so schnell wie möglich zu ihr kommen? Wenn ich zur Arbeit gegangen oder generell aus dem Haus gegangen bin, habe ich genau geplant: Durch welche Straße gehe ich, in die Nähe von welchen Orten? Wir leben zum Glück in einer eigentlich sicheren Gegend. Aber aus Erfahrung weiß ich: Es gibt keine wirklich sicheren Gegenden. Das ist noch 1000-mal schwieriger als der tägliche Kram, denn dieser Gedanke kann dich wirklich kaputtmachen. Ein Kind großzuziehen ist sowieso schon, wie einen Berg zu besteigen. Aber ich habe gefühlt noch einen Rucksack voller Steine auf dem Rücken.

Ich selbst habe als Kind den Krieg durchlebt. Meine Eltern haben 20 Jahre lang im Krieg gelebt und ich 12 Jahre. Ich bin damit aufgewachsen, ständig umziehen zu müssen, je nachdem wo die Gefahr war. Ja, ich habe es überlebt, aber nicht unbeschadet überstanden. Und jetzt ist mein Kind davon betroffen. Das Trauma ist generationsübergreifend. Ich frage mich sogar, ob die Kinder meines Kindes später mal im Krieg aufwachsen werden.

Der Tod bedroht uns ständig. Dieses Gefühl nimmt uns sogar das letzte Quäntchen Kontrolle, das wir zu haben glaubten. Vor allem in einem Land wie dem Libanon, in dem es keine mentale Sicherheit gibt. Alleine das Überqueren der Straße ist schon gefährlich. Ich fühle mich so hilflos. Es ist außerhalb meiner Hände, meiner Kontrolle.

Deshalb hatte ich keine Notfalltasche gepackt, mit Pässen oder wichtigen Dingen. Ich möchte mich selbst nicht beunruhigen – und meine Tochter nicht verstören. Das ist sowieso nutzlos: Wenn du aus dem Haus fliehen musst, was bringt dir dann ein Pass?“

Saseen Kawzally, 44, Schriftsteller und Schauspieler. Er lebt im Libanongebirge in einem Vorort von Beirut.

„Mein Kind ist so alt wie der Genozid in Gaza“

„Der Völkermord an den Palästinensern in Gaza begann eine Woche vor der Geburt meiner Tochter. Die ersten viereinhalb Monate verbrachte sie auf der Neugeborenen-Intensivstation, sie wurde mit 640 Gramm und 26 Zentimetern geboren.

Die Videos von Frühchen in Gaza, die zur selben Zeit wie sie im Brutkasten lagen, haben mich sofort beschäftigt. Die meisten dieser Babys wurden nicht so früh geboren wie mein Kind, aber diese Seelen waren immer weitaus mehr gefährdet als sie.

Da unsere Situation unglaublich prekär war, hatte ich vorgehabt, mich vor den Nachrichten aus Gaza abzuschirmen, um meine Energie für meine Tochter zu bewahren. Und auch, weil ich damit rechnete, dass der Libanon irgendwann von diesem Albtraum heimgesucht würde. Menschen, die im Libanon leben, erwarten immer Gewalt in naher Zukunft. Die Gegenwart wird nur als eine „Zwischenzeit“ erlebt, bis die nächste Runde der Gewalt alles wieder infrage stellt.

Es war aber unmöglich, die Nachrichten auszublenden. Also habe ich mir vorgenommen, mir die Aufnahmen aus Gaza nicht anzusehen, wenn ich mit meiner Tochter in einem Raum bin. Auch das war nicht möglich, also habe ich es zumindest so weit wie möglich minimiert: keine Videos von sterbenden oder toten Kindern, während ich auf der Babyintensivstation war.

Es war schwierig. Ich wollte irgendwie den Völkermord „verstehen“, mein Bewältigungsmechanismus. Ich las so viele Artikel in so vielen Sprachen wie möglich und tauschte mich stundenlang mit Freunden aus der Region aus, deren Gedanken ich schätze.

Mein Kind ist so alt wie der Genozid in Gaza. Das ist etwas, auf das ich keinen Einfluss habe, aber ich kann es nicht ignorieren, und ich will es auch nicht. Jeder Atemzug, den sie bisher in ihrem Leben getan hat, tut sie in einer Welt, in der Israel Kinder wie sie ermordet, und das ist eine Welt, in der ich als ihr Vater bestehen muss. Alles andere wäre ihr gegenüber unfair, denn ich würde ihr das Rüstzeug vorenthalten, das sie braucht, um die Welt zu verstehen, die sie erbt.

Sie wird eines Tages erfahren, dass sie selbst Libanesin und Palästinenserin ist. Dass ihr Urgroßvater väterlicherseits im Exil lebte. Sie wird auch sehen müssen, dass das Land, dessen Staatsbürgerschaft sie besitzt, Italien, zu denjenigen gehört, die den Staat Israel mit Mitteln ausstatten, um Kinder wie sie zu töten.

Ich möchte, dass sie in der Lage ist, ein starkes Gefühl für Recht und Unrecht zu haben. Das beginnt mit einem belastbaren, grundlegenden Wissen über die jüngste und ferne Vergangenheit. Ich möchte, dass sie die Fallstricke älterer Generationen vermeidet, die die Welt nach dem Kalten Krieg mit ihrem neoliberalen Kapitalismus und der Dominanz einer Handvoll Regierungen über alle anderen als selbstverständlich betrachtet haben.

Um ein moralischer Mensch zu sein, muss sie sich mit einer Reflexion James Baldwins auseinandersetzen: „Die Kinder gehören immer uns, jedes einzelne von ihnen, überall auf der Welt […], wer das nicht erkennt, ist vielleicht unfähig zur Moral.“

Sie wird realisieren, dass Israel als Nächstes den Libanon angegriffen hat. Das Land, in dem ihr Vater aufgewachsen ist, in das ihr Urgroßvater verbannt wurde und in dem ihre beiden Großeltern als Mitglieder des libanesischen Roten Kreuzes fünfzehn Jahre Bürgerkrieg überlebt haben. Sie werden sich nie kennenlernen, da mein Opa 2020 starb. Ein Mann, der bis er 80 Jahre wurde im ständigen Exil lebte und dann starb. Ich spüre seine eindringliche Präsenz, und sie wird das auch spüren.

Wir hatten das Privileg, in einer stabilen Umgebung in einem gut ausgestatteten Krankenhaus zu sein. Ich habe es vermieden, dem Krankenhauspersonal gegenüber ihre palästinensische Herkunft anzusprechen. Wegen der Haltung Europas, das „Recht auf Selbstverteidigung“ Israels zu unterstützen, kam ich zu dem Schluss, es wäre besser, wenn dieses Frühchen noch nicht mit den Folgen der weißen Vorherrschaft konfrontiert wird – das wird sie später noch. Als Araber habe ich über dreißig Jahre Erfahrung im Maskieren: Ich spreche Französisch. Keine Kufija außerhalb des Hauses und keine Shirts mit arabischer Schrift, nur für den Fall.

Das bedeutet auch, dass sie, so schwierig es auch sein wird, daran denken muss, dass diejenigen, die den Völkermord begehen, selbst sehr menschlich sind. Es gibt nichts, wozu sie fähig sind, wozu sie nicht auch selbst fähig wäre. Sie muss sich entscheiden, nicht zu dieser Person zu werden.

Netanjahus Wunsch, an der Macht zu bleiben, ist moralisch nicht höher zu bewerten als das Existenzrecht eines Kindes. So einfach sollte es sein. Aber die Macht wird von einer Handvoll Menschen ausgeübt, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Die sogenannte internationale Gemeinschaft ist ebenso mittelmäßig wie zerstörerisch, und das macht alles noch unerträglicher.

Als ich auf der Neugeborenen-Intensivstation an ihrer Seite war, konnte ich Baldwins Überlegungen bis ins Mark nachempfinden. Die Kinder in Gaza waren auch meine Kinder. Ich konnte nichts tun, um sie zu retten. Dieses kostbare Leben, das man kaum kennengelernt hat, die Dinge, die man ihnen zeigen möchte, wie man sie beschützen und pflegen möchte. Was passiert im Kopf, wenn man feststellt, dass die Welt, in der man lebt, in ihrer verarmten Vorstellungskraft keinen Platz für einen selbst oder das eigene Kind hat? Was macht das mit dir als Eltern?“

Elia Ayoub, 33 Jahre alt, libanesisch-palästinensischer Postdoktorand, politischer Analyst und Podcaster. Er lebt in Großbritannien.

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