Musiktheater im Stream: Musikalische Alltagsgeräusche

Was hört man in einem Musikgeschäft? Und wer trifft sich dort? Die Uraufführung einer Performance aus dem Berliner Radialsystem uferte zeitlich aus.

Zwei Männer vor einem Verkaufstresen

Betrachten das Soziotop eines Musikgeschäfts: Bastian Zimmermann und Neo Hülcker Foto: David Beercroft

„Wie lang wird denn das noch dauern? Ich muss auf die Uhr schauen …“ So beginnt der innere Monolog des Leutnant Gustl in der Novelle von Arthur Schnitzler aus dem Jahr 1900. Gelangweilt sitzt er in einem Konzert und denkt ein paar Zeilen später: „Jetzt wird’s doch bald aus sein?“

Wenn einem trotz Coronatristesse während eines Theaterabends mehrfach die Worte Leutnant Gustls in den Sinn kommen, war das Gesehene nicht kurzweilig genug. Einen Online-Stream über drei Stunden und 20 Minuten zu verfolgen ist anstrengend. Es ist noch anstrengender, wenn es in den drei Stunden weder eine Figurenentwicklung noch eine richtige Handlung gibt und das Geschehen nach einer Stunde zunehmend redundant wird.

Nerds, Profis, An­fän­ge­r*in­nen

Mit der Uraufführung der Theaterperformance „Das Musikgeschäft“ hat sich das Radialsystem Berlin am Samstagabend, 13. Februar, unter der künstlerischen Leitung von Neo Hülcker und Bastian Zimmermann nach eigener Beschreibung dem „Soziotop aktueller Musikproduktion“ gewidmet. In einem Musikgeschäft treffen Musikfreunde aus unterschiedlichsten Bereichen und von jeder Begabungsstufe aufeinander. Nerds, Profis, An­fän­ge­r*in­nen probieren neue Instrumente aus, lassen etwas reparieren, führen Fachgespräche und erwerben neue Noten.

Die Aufmachung ist durchaus ansprechend. Die Ver­käu­fe­r*in­nen Armin und Heinrich stehen mit blinkendem Namensschildchen in ihrem attraktiv beleuchteten und vielseitig bestückten Musikgeschäft. Michael Kleine und Lisa Fütterer haben dafür im Radialsystem eine tolle offene Bühne kreiert, die mit den unterschiedlichen Kameraperspektiven im Online-Stream großartig harmoniert. Die Ausstattung mit blinkender CD-Deko und verspielten Details, wie etwa einer Krawatte mit Klaviertastenoptik, ist liebevoll trashig. Die räumliche Umsetzung für eine Online-Darstellung ist abwechslungsreich, die Tontechnik funktioniert gut.

Für die Ver­käu­fe­r*in­nen läuft es im Musikgeschäft nicht rund, immer wieder müssen sie längere Zeit auf Kun­d*in­nen warten. Mit Teleshopping versuchen sie eine neue Akquise. Der sympathische Armin (Armin Dallapiccola/Wieser) wirft sich in blauer Strickjacke und weißem Hemd in Pose. Ein verschmitztes Lächeln, eine sexy Stimme, ein paar freshe Anglizismen und natürlich ist er im improvisierten Text „per Du“ mit dem Publikum. Am „fancy Saturday“ will er allen „Kings, Queens und criminal Queers“ Mundharmonikas und Gitarren verkaufen. Die Persi­flage des Teleshoppings ist zu Beginn unterhaltsam, zumal Zu­schaue­r*in­nen live anrufen und mit den Spielenden interagieren können. Doch Teleshopping ist, der Vorlage entsprechend, bei der dritten Wiederholung nicht mehr interessant.

Da müsste Musik sein

Und befinden wir uns nicht an einem Ort voller musikalischer Möglichkeiten? Regisseur Neo Hülcker hat den Fokus seiner Arbeit auf Musik als anthropologische Untersuchung in alltäglichen Lebensumgebungen gelegt. Dadurch hört man in dieser Theaterperformance viel und intensiv und trotzdem viel zu wenig. An Instrumenten wird gekratzt, auf Tischen wird geklopft, Chips werden geräuschvoll zerkaut. Nur die Musik, die fehlt zu oft. Die Skizze zu „Das Musikgeschäft“ entstammt dem gleichnamigen, unrealisierten Konzept aus den 80er Jahren des Schlagzeugers und Komponisten Sven-Åke Johansson. Warum es unrealisiert blieb, wird im Ankündigungstext nicht beschrieben. Nach dem Stück hat man eine Idee.

Wohltuende und laute Abwechslung bietet nach einer Stunde Spielzeit der als musikalisches Wunderkind auftretende David Nemtsov, der im Proberaum des Musikgeschäfts ein Schlagzeug-Solo hinlegt. Der 12-jährige Berliner Musiker ist Gewinner von „Jugend musiziert“ 2020, er bringt etwas Beat ins Stück. Neben ihm treten im „Musikgeschäft“ mehrere andere Mu­si­ke­r*in­nen auf, doch Musikstücke werden nur angeschnitten. Selten ist es dem Publikum vergönnt, Instrumente in ihrer vollen Schönheit zu hören. Stattdessen hört man, wie ein Akkordeon ausgepackt wird: der Schnitt mit dem Messer durch Karton, das Knistern des Klebebandes, das Knacken von zerplatzenden Luftpolstern. Es ist der Sound der Zeit, wenn man so will, mit viel Online-Shopping, viel Müll und ohne Livekonzerte.

Weitesgehend unbeachtet bleiben die realen Probleme für Fachgeschäfte und freischaffende Künst­le­r*in­nen in der Coronapandemie. Nur oberflächlich wird erzählt, welche Menschen es in ein Musikgeschäft verschlägt, welche vielleicht nicht. Wenig ausgeschöpft wird das Potenzial, die realen Mu­si­ke­r*in­nen mit ihrer Musik und durch gut verstehbare Dialoge vorzustellen.

Kratzen an der Oberfläche, so interessant das auf einer Gitarre auch klingen mag, funktioniert nicht auf so eine Zeitdauer. Besser geeignet ist das Stück daher vielleicht als Nebenbei-Unterhaltung. Wie Teleshopping.

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