Musikfestival in Montenegro: Tanz Richtung Europa
Das Electronic Beats Festival in Ulcinj lockte Locals wie Touristen an. Auch Menschen aus Russland und der Ukraine trafen in Montenegro aufeinander.
Montenegro ist ein kleines Balkanland an der Adriaküste mit nur etwa 650.000 Einwohner:innen. Erst im Jahr 2006 erlangte es seine Unabhängigkeit von Serbien wieder. Neben Montenegriner:innen, die zumeist aus der Hauptstadt Podgorica regelmäßig die malerischen Buchten und Städtchen an der Küste besuchen, reisen zunehmend mehr westliche Tourist:innen zu den Stränden nahe Ulcinj, von denen einer in diesem Jahr zum drittschönsten Strand Europas gekürt worden ist. Auch viele Russ:innen und etwas weniger Ukrainer:innen finden in dem kleinen Land zumindest vorübergehend eine neue Heimat.
„Im Vergleich zu den Ukrainern sind die meisten Leute aus Russland keine Flüchtlinge“, sagt Fatmir, ein Tourguide albanischer Herkunft aus der Stadt Ulcinj, wo ein Großteil der Bevölkerung albanischen Ursprungs ist und friedlich mit Montenegriner:innen koexistiert. „Sie kaufen Immobilien auf, lassen neue bauen und treiben die Preise in die Höhe. Sie öffnen der Korruption Tür und Tor. Vor allem in Budva.“
Obwohl es zwischen Russland und Montenegro kulturelle und vor allem religiöse Ähnlichkeiten gibt, spiegeln Fatmirs Worte die Meinung vieler im Land in Bezug auf Russland wider. Montenegro verweigerte als Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat im vergangenen Jahr dem russischen Außenminister Sergei Lawrow den Überflug nach Serbien. Montenegro findet sich derweil eingekeilt zwischen Interessen verschiedener Großmächte wieder.
Wenn ein chinesisches Unternehmen eine Autobahn, die von Montenegro über die Schwarzen Berge nach Serbien führt, bauen lässt, um Handelskorridore durch den Balkan zu eröffnen und die Kontrolle über die großen Häfen wie Bar zu erlangen, halst es dem kleinen Land an der Adria hohe Schulden auf. Russland investiert indes in die montenegrinische Industrie sowie den Tourismus und versucht so ebenfalls, seinen Einfluss auf dem Balkan auszubauen.
Musik verbindet – auch Russen und Ukrainer
Der 42-jährige DJ Cule, bürgerlich Aleksandar Cuca aus Podgorica, versucht die Situation positiv zu sehen: „Viele Russen und Ukrainer kommen jetzt zu unseren Raves, dadurch werden wir bekannter. Musik verbindet, und innerhalb der Szene sind so gut wie alle gegen diesen Krieg.“ In der vergangenen Woche legte er auf dem Festival der Telekom Musikvermarktungsplattform Electronic Beats im Strandclub Dolcinium in der Nähe von Ulcinj Deep und Tech House auf. Electronic Beats wurde 2000 ins Leben gerufen, mit dem Ziel, das Image von Telekom aufzubessern und mit lokalen Promotern, Presse und Künstlern für ein diverses Line-up mit lokalen und internationalen Künstler:innen zusammenzuarbeiten.
Rappelvoll war der Dolcinium Floor, wo sich stilbewusste und eher gutbetuchte Menschen tummelten – Locals und Tourist:innen gleichermaßen. „Dass Electronic Beats hier stattfindet, bedeutet für uns DJs eine Menge, denn wir treffen internationale Künstler, lernen von ihnen, dadurch fühlen wir uns mehr als Teil von Europa“, erzählt DJ Cule. Nur der montenegrinische Staat nehme noch immer eine eher ignorante Haltung gegenüber der Musikszene ein. „Etwas mehr Unterstützung wäre schön“, sagt DJ Cule.
Die DJ-Künstlerin 1996, bürgerlich Magdalena Vuković und auch Teil des Electronic Beats Line-Ups, erzählt, dass sich in den vergangenen zwei Jahren viel in der Musik- und Kulturszene getan habe und es immer mehr Locations gäbe. Während der Sommertage seien Budva, Kotor, Tivat und Ulcinj mit seinem Velika Plaža („Großer Strand“) die beliebtesten Veranstaltungsorte.
In der übrigen Zeit des Jahres fänden die meisten Veranstaltungen in Podgorica statt: „Unsere Partys ziehen Menschen verschiedener Altersgruppen und Herkünfte an. Männer und Frauen sind gleichermaßen vertreten und die LGBTQ+-Community ist herzlich willkommen.“ Als Frau habe DJ 1996 keine Schwierigkeiten gehabt, in der Szene Fuß zu fassen.
Hoffen auf strategische Kulturpolitik
Obwohl Turbofolk auf dem Balkan noch immer weit verbreitet sei, habe ein großer Teil der jungen Menschen in Montenegro ihren Platz auf Festivals und Veranstaltungen gefunden, die andere Musikrichtungen und ein freiheitliches Miteinander fördern, berichtet die 41-jährige Eventmanagerin und Bookerin Nina Redžepagić.
Sie arbeitete in diesem Jahr mit Electronic Beats zusammen, um das Festival auf die Beine zu stellen, und hofft, dass Montenegro im Rahmen einer strategischen Kulturpolitik in naher Zukunft die Notwendigkeit solcher Kulturveranstaltungen erkennen wird, auch um das Land nach außen hin als progressiv und weltoffen zu branden.
Nina Redžepagić beschreibt die montenegrinische Gesellschaft als gespalten und beklagt eine Zunahme nationalistischer und diskriminierender Einstellungen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in den vergangenen zwei Jahren: „Der Kultur- und Kreativsektor ist von grundlegender Bedeutung für die Überwindung dieser Unterschiede, deshalb sind jene Veranstaltungen, die universelle künstlerische Werte fördern, für den kosmopolitischen Geist einer Gesellschaft unerlässlich.“
Obwohl die Wahlbeteiligung mit 56 Prozent die niedrigste seit der Unabhängigkeit von Serbien im Jahr 2006 ist, macht ihr der Sieg der Bewegung „Europa jetzt!“ gegen proserbische und prorussische Kandidaten bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni Hoffnung: „Die Wahlergebnisse zeigen, dass die Menschen sich nach Veränderung, politischer Stabilität und Vielfalt im politischen Angebot sehnen“, sagt Redžepagić. „Sie wollen, dass Montenegro ein säkulares Land mit starker Zivilgesellschaft wird und sich schon bald einen europäischen Weg ebnet.“
Hohe Erwartungen an neue Regierung
Junge Menschen in Montenegro, zu denen die 19-jährige Influencerin Nikolina Radusinović gehört, erwarten von der neuen Regierung, dass sie endlich rechtsstaatlichen Prinzipien folgt, was Chancengleichheit und ein hochwertiges Bildungssystem für alle bedeuten würde.
„Bisher war unser Land leider von klassischer Vetternwirtschaft geprägt. Du brauchst Beziehungen und Geld, wenn du es nach oben schaffen willst. Der Kauf von Diplomen ist immer noch üblich“, erzählt sie. Weil sie hohe Erwartungen an die neue Regierung hat, schloss sie sich selbst der Bewegung „Europa jetzt“ an und wurde als Koordinatorin für digitales Marketing Mitglied der Jugendpräsidentschaft.
Nikolina Radusinović beklagt die hohe Arbeitslosigkeit im Land. Insbesondere unter den jungen Menschen sieht sich jeder zweite mit diesem Problem konfrontiert, weshalb viele Montenegro in Richtung der Nachbarländer oder Westeuropa verlassen. Doch Nikolina möchte in Montenegro bleiben: „Ich glaube, dass es für mich, vor allem angesichts der Schönheit meines Landes und der Erwartung, dass wir bald Mitglied der Europäischen Union werden, am besten ist, hier für Wohlstand und Gerechtigkeit zu kämpfen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Israels Brüche der Waffenruhe
Die USA sind kein neutraler Partner