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Musiker Igor Bancer über Belarus„Es geht nicht um mich“

Überraschend aus belarussischer Haft entlassen: Der Musiker Igor Bancer über seinen neuen Alltag und die Proteste in Kasachstan.

Aus der Haft entlassen, aber nicht zurück in einem irgendwie normalen Leben: Igor Bancer Foto: Katerina Gordeeva
Robert Mießner
Interview von Robert Mießner

taz: Igor Bancer, wie sah Ihr Jahreswechsel aus?

Igor Bancer: Jahreswechsel, Neujahr? Seit meiner Haftentlassung, mit der nicht zu rechnen war, muss ich mich mit der belarussischen Realität herumschlagen und bin immer noch nicht in das normale Leben zurückgekehrt. Wenige Tage vor unserem Gespräch (12. Januar 2022, taz), habe ich erfahren, dass zwei Leute verhaftet worden sind, weil sie die Entsendung belarussischer Soldaten nach Kasachstan im Internet kritisch kommentiert haben. So sieht es bei uns aus. Ich habe Diskussionen mit meinen Eltern, mit meiner Frau. Es ist nicht leicht, jemanden in der Familie zu haben, der wegen seiner politischen Aktivitäten als Krimineller gilt. Freunde von mir sitzen für lange Zeit im Gefängnis, andere haben das Land verlassen. Da fällt es schwer, froh zu sein, auch wenn Weihnachten oder Neujahr ist.

Über Ihre Haftzeit haben Sie dem Internetmagazin „Reform.by“ ein ausführliches Interview gegeben. „Unter meinen Bekannten gibt es keine Optimisten mehr“, sagen Sie da.

Von Belarus aus kommen Sie nicht auf diese Seite.

Sie können Ihr eigenes Interview nicht lesen?

Im Interview: Igor Bancer

hat als Sänger der mehrsprachigen Streetpunkband Mister X bisher sechs Alben veröffentlicht und gehört zur subkulturellen Szene seiner Heimatstadt Grodno in Belarus. Bancer ist seit 2007 auf dem Radar der belarussischen Justiz. Er ist Aktivist der Protestbewegung, die sich im August 2020 nach dem gefälschten Wahlsieg von Machthaber Alexander Lukaschenko formierte. Nach einem Hungerstreik in Untersuchungshaft ist Bancer im März 2021 zu eineinhalb Jahren Strafarbeit verurteilt worden, die er Mitte Juni in Witebsk im Nordosten von Belarus antrat. Am 17. Dezember ist Igor Bancer nach mehreren Wochen Einzelhaft entlassen worden.

Im Telefonat mit der taz zitiert Bancer, der seine Opposition schon mal komödiantisch-direkt demonstriert, Monty Python: „Always Look on the Bright Side of Life.“

Ja, da ist eine Art große chinesische Firewall davor. Seiten wie diese gelten der belarussischen Justiz als „extremistische Propaganda“.

Wo und wie informieren Sie sich?

Gute Frage. Was ich zum Jahreswechsel getan habe, war, Telegram von meinen Geräten zu entfernen. Für den Fall, dass sich die Polizei oder der KGB meiner wieder annehmen, möchte ich nicht, dass sich auf meinem Telefon oder Laptop „extremistische Inhalte“ finden, die vorher dort nicht waren. Um über die Situation in Belarus auf dem Laufenden zu bleiben, verfolge ich unabhängige russische Nachrichten. Und, es wird Sie vielleicht verblüffen, ich lese offizielle belarussische Zeitungen und versuche, zwischen den Zeilen die Informationen herauszufiltern. Es ist etwa so wie bei George Orwells „1984“. Mit etwas Reflexion lässt sich schon dahinterkommen.

Konnten Sie das auch in der Haft?

Nein, sicher nicht. Im Gefängnis sind Sie aus der Welt. Am Anfang meiner Haft konnte ich noch auf das Handy zurückgreifen und gelegentlich Zeitung lesen, aber im Grunde war ich ein halbes Jahr von dem, was in Belarus geschah, abgeschnitten. Jetzt versuche ich, mich Schritt für Schritt da wieder hineinzufinden.

Sie kommen aus Grodno und leben auch dort. Ist dort etwas von der Lage der Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze bekannt? Grodno liegt ja ziemlich nahe.

17 Kilometer sind es von Grodno zur Grenze. Den Flüchtlingen geht es fürchterlich und das muss aufhören. Interessant, auch wenn das nicht das passende Wort ist, ist einmal die offizielle polnische Seite, die keine unabhängigen Medien dort haben will, auf der anderen Seite die belarussischen Behörden, die niemanden den Zugang erlauben. Beide wollen, dass am besten nichts nach außen dringt. Dazwischen ist ein Vakuum entstanden. Über die Situation der Flüchtlinge etwas in Erfahrung zu bringen, ist sehr schwer. Von unabhängigen polnischen Organisationen, zu ihnen habe ich Kontakt, kommen Nachrichten, in Belarus haben wir nur die staatlichen Medien, die die Flüchtlinge in Lukaschenkos Sinne instrumentalisieren. Es ist übrigens gefährlich, sich der unmittelbaren Grenzregion zu nähern. Keiner meiner Freunde würde das tun, aus Angst, verhaftet zu werden. Ich habe, das können Sie ruhig veröffentlichen, zweimal vorgehabt, dorthin zu gehen, und es dann besser doch nicht getan.

Sie haben es bereits erwähnt: Ab dem 2. Januar kam es in Kasachstan zu gewaltsamen Protesten, in deren Folge die Regierung zurücktrat und Truppen des OVKS, eines von Russland geleiteten Militärbündnisses ehemaliger Sowjetrepubliken, darunter Belarus, nach Kasachstan geschickt wurden. Was denken Sie darüber?

Für mich sieht das nach einem Kampf zwischen verschiedenen Oligarchenclans aus, und die normalen Menschen, die, die auf die Straße gegangen, getötet und verhaftet worden sind, müssen ihn ausbaden und leiden darunter wie üblich. Wladimir Putin gibt die Kasachstan-Krise eine Möglichkeit zur Machtdemonstration, zu weiterer Repression. Und er und Lukaschenko werden sich Kasachstan genau anschauen: den Machtwechsel vor drei Jahren (von Nursultan Nasarbajew zu Qassym-Schomart Toqajew, taz) als Modell und als Beispiel dafür, wie es nicht funktioniert.

Sie sind Musiker. Sind Sie der Fragen nach politischen Themen eigentlich irgendwann müde?

Um ehrlich zu sein, geht es nicht um mich, sondern um die ganze Gesellschaft. Ob in Putins Russland, in Kasachstan und gleichermaßen in Belarus: Sie können natürlich behaupten, dass Politik Sie nichts schert, aber sie ist überall, ob in den offiziellen oder unabhängigen Medien, ob im Internet, im Fernsehen oder in den Zeitungen. Es geht nicht darum, ihrer müde zu sein oder nicht, sondern sie zu ignorieren oder nicht. Seien Sie sich sicher, ich möchte die Politik ignorieren, kann es aber nicht.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Wohin diese Ignoranz führen kann, zeigt der russische Rapper Morgenshtern. Er ist einer, der mit vordergründig provokativen Youtube-Videos austestet, wie weit er gehen kann, es damit zum Klick-Millionär gebracht hat und sagt, Politik interessiere ihn nicht. 2021 nun haben die Behörden behauptet, Morgenshtern würde nicht nur Drogenkonsum propagieren, sondern er sei selbst Drogenhändler. Danach musste er außer Landes. Ob Sie nun ein großer Name wie Morgenshtern oder ein kleiner Undergroundmusiker sind, mit Vogel-Strauß-Taktik kommen Sie in der ehemaligen Sowjetunion nicht weit. Beziehungsweise, Sie können versuchen, die Politik auszusperren, aber dann klopft sie an Ihre Tür. Für mich ist das nicht langweilig, sondern die Realität, der ich mich stellen muss. Da gibt es keine Wahl. Eine Möglichkeit zumindest wäre, das Land zu verlassen, aber das kommt für mich nicht in Frage.

Sie sind bekennender Linker. Wie geht es Ihnen damit in einem Staat, in dem, zumindest ist das der westeuropäische Eindruck, sowjetische Symboliken und Traditionen gepflegt und auch genutzt werden?

Alexander Lukaschenko hat in den neunziger Jahren versucht, die Sowjetmentalität zu erneuern, die belarussischen Behörden haben versucht, der sowjetischen Propaganda ein Facelifting zu verpassen. Aber wie sieht es jetzt aus? Die Leute sind auf Tiktok, auf Instagram, die staatliche Rhetorik lässt sie kalt; bei den jungen Leuten verfängt die Propaganda nicht mehr. Auch die Produzenten glauben nicht mehr daran. Als ich ins Gefängnis ging, waren selbst die Polizisten, die Offiziere an ihren Smartphones und in den sozialen Medien. Und die sind jünger gewesen als ich. Deshalb musste ich etwas lachen bei Ihrer Frage. Wenn Sie durch Grodno laufen, werden Sie Hipster wie in Berlin und Warschau sehen, eine Tiktok- und Instagram-Welt. Billie-Eilish-Style nenne ich das. Bars, Coffeeshops, in denen die Leute sich als europäische Nation fühlen können. Ich weiß nicht, was das heißt, aber auf keinen Fall wollen sie der ehemaligen Sowjetunion zugeschlagen werden. Dafür sind sie auf die Straße.

In einem früheren taz-Interview haben Sie sich auf Karl Marx bezogen.

Ich beziehe mich auf ihn, wenn es um die Ökonomie geht. Im sozialen Spektrum bin ich Ultrahumanist. Ich mag dieses Modewort Transhumanismus nicht, ich kapiere nicht, was das sein soll. Ich lebe ultra, Ultra-Style. Und in meiner Gefängniszeit kam es oft zu Diskussionen mit den Angestellten, die mich fragten: „Okay, du bist ein moderner, europäischer Linker. Dann bist du für LGBTQ+, Gender, Feminismus, all diesen Kram.“ Das ist interessant, denn es zeigt, wer so redet, ist einerseits von der staatlichen Propaganda beeinflusst, weiß andererseits aber schon, dass die Sowjetunion das eine, moderne linke Politik das andere ist. Sich im Gefängnis dazu zu bekennen, verlangt einiges ab. Sobald Sie einmal hinter dem Gefängnistor sind, haben Sie es mit der kriminellen Subkultur zu tun, und die ist misogyn und homophob.

Dann gibt es noch etwas: Als ich ins Gefängnis ging, da waren in den staatlichen Medien die Leute, die auf den Straßen mit weiß-roten Fahnen demonstrierten, Faschisten und Nationalisten. Jetzt ist der Vorwurf, sie seien allesamt Feministen, LGBTQ+ und Transgender-Aktivisten. Das ist ein Beispiel für die Flexibilität und Elastizität der Propaganda und des Regimes; sie nutzen jede Möglichkeit des Machterhalts. Es ist schwer, in Belarus zu bleiben und Linker zu sein.

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