Museumsprojekt zur Provenienzforschung: „Nadeln im Heuhaufen“
Das Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven durchforstet seinen Bestand nach Objekten aus der Kolonialzeit. Dieses Projekt wird 20 bis 30 Jahre dauern.
Das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) denkt gerade bei vielen seiner 200.000 Objekte noch einmal neu über Recht und Unrecht nach und stellt sich seiner kolonialen Vergangenheit. Seit 2017 schon überprüft das Museum seine Sammlung auf Kulturgüter, die im Zuge der NS-Verfolgungen geraubt wurden. In dem neuen Forschungsprojekt soll der Fokus nun auf Raubgütern aus der Zeit des Deutschen Kaiserreichs liegen.
Schiffe waren Ende des 19. Jahrhunderts für die Beförderung von Waren unverzichtbar – und wurden so zum Instrument für den Transport von Raubgut nach Europa. „Wir wollen nicht mehr die wissenschaftlich fragwürdige Unterscheidung zwischen Marinegeschichte und anderer Schifffahrt machen, sondern eine große Geschichte über Kaiserreich, Schifffahrt und Kolonialisierung erzählen“, sagt die Historikerin Ruth Schilling. Seit Herbst 2014 ist sie wissenschaftliche Leiterin für den Programmbereich Schifffahrt und Gesellschaft.
Die Gelder sind bewilligt, im April geht es los. Dann heißt es, Objekte sichten, identifizieren und einordnen. „Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen“, sagt Schilling. Mit über 200.000 Objekten gehört das Schifffahrtsmuseum zu den größten maritimen Museen Europas. Und allein die Sammlung an Kolonialobjekten sei so groß, dass die nächsten 20 bis 30 Jahre Objektforschung gesichert seien.
Ruth Schilling, Schifffahrtsmuseum Bremerhaven
An erster Stelle steht die Identifizierung des Objekts. Nicht alle Formen der Aneignung können direkt als Raub identifiziert werden: Objekte wie die Seidensticktücher tauchen deshalb, so Schilling, im Kolonialismusdiskurs oft gar nicht auf. Nur Museum und Beraubte gegenüberzustellen, sei zu simpel. „Die Kette ist sehr viel länger“, betont sie. Der Auftrag sei daher, das Bewusstsein für wirtschaftliche und politische Zusammenhänge, aus denen Kolonialgeschichte erst entstehen konnte, zu stärken. Eine Mammutaufgabe.
Was aber passiert mit Objekten, die klar als Raubgut identifiziert werden können? „Wenn man den Ursprung genau nachvollziehen kann, sollte man sie zurückgeben“, sagt Schilling. Es sei mitunter aber gar nicht so leicht, ein Gegenüber nicht immer zu finden. Sie ergänzt: „Und so weit sind wir ja leider noch gar nicht.“
Oft sei auch der Ursprung eines Objektes letztendlich nicht nachverfolgbar. Dann müsse man genau diese Leerstellen thematisieren – und offenlegen, dass man Objekte besitze, deren Kontext man nicht klären könne.
Das Hauptforschungsteam in Bremerhaven ist homogen, besteht größtenteils aus Historiker:innen. Ruth Schilling ist das bewusst. „Wir versuchen, das Team durch Gastwissenschaftler diverser zu machen.“ Immer wieder ziehen sie außerdem Expert:innen aus den Herkunftsländern von Objekten hinzu. Dieses Jahr zum Beispiel die in Australien lebende Künstlerin Lisa Hilli, die aus Papua Neuguinea stammende Objekte kommentieren wird.
Mit solchen bilateralen Ausstellungskonzepten und dem Aufzeigen verschiedener Perspektiven will sich das Museum neu ausrichten. „Ich wünsche mir eine wirkliche Vernetzung und keine Alibiprojekte“, sagt Ruth Schilling. „Eine gemeinsame Homepage reicht nicht.“
Das Projekt untersucht nicht nur die Herkunft von Einzelobjekten, auf dem Prüfstand steht mehr: Museen entstammen einer europäischen Tradition. Dieses System des Ausstellens findet man nicht überall auf der Welt. „Das Museum als Institution ist in bestimmten historischen Konstellationen entstanden und hat die nationale oder sogar imperiale Vergemeinschaftung vorangetrieben“, erklärt die Geschichtswissenschaftlerin. Eine Frage, die Schilling daher beschäftigt, ist, wie man die Institution selbst weiterentwickeln kann. „Man muss das Museum ins 21. Jahrhundert retten als Plattform für politische Kultur.“ Und dazu gehöre eben die kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit.
Das Schifffahrtsmuseum wird in seinem Forschungsprojekt vom Deutschen Zentrum für Kulturgutverluste gefördert. Insgesamt konnte die Stiftung von Bund und Ländern 2020 rund 1,76 Millionen Euro im Förderbereich „Koloniale Kontexte“ an verschiedene Museen in Deutschland ausschütten. Schilling würde sich mehr wünschen: „Es gibt aggressive Forderungen an Museen, sich mit der Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen“, sagt sie, „aber oft können die das finanziell gar nicht.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen