Mord an Walter Lübcke: Angeklagter stellt sich der Familie
Im Prozess zum Mord an Walter Lübcke beantwortet der Angeklagte Fragen der Familie des Opfers – und belastet einen Mitangeklagten weiter schwer.
Ob er sich vor dem Mord Gedanken gemacht habe, dass er der Familie einen geliebten Menschen nehmen werde, fragt Holger Matt, der Anwalt der Familie. Ernst zögert, starrt auf den Tisch vor sich. „Nein, habe ich mir nicht gemacht.“ Ob er daran gedacht habe, dass Walter Lübcke noch leben wollte, den bevorstehenden Ruhestand genießen? Wieder stockt Ernst, diesmal viele Sekunden lang, im Saal ist es ganz still. „Darf ich meinen Anwalt sprechen?“ Dann antwortet er auch hier: „Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.“
In der Nacht zum 2. Juni 2019 soll Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ermordet haben, mit einem Kopfschuss, vor dessen Haus im Dorf Istha. Seit Juni steht der Rechtsextremist dafür vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main. Und nun muss Ernst erstmals die Fragen derjenigen beantworten, die für immer unter der Tat leiden werden: den Angehörigen von Walter Lübcke.
Für Ernst ist es der fünfte Tag, an dem er im Prozess zu der Mordtat aussagt. Schon kurz nach seiner Verhaftung hatte er die Tat gestanden: Er allein habe Lübcke erschossen, aus Wut über dessen Kritik an Geflüchtetengegnern im Jahr 2015.
Rechtsextreme Gesinnung als Tatmotiv
Dann die Kehrtwende: Nun sollte der Mitangeklagte und frühere Freund Markus H. der Schütze gewesen sein, ebenfalls ein Kasseler Rechtsextremist. Man sei gemeinsam bei Lübcke gewesen, der Schuss aus Versehen gefallen. Im Prozess nun Variante drei: Er habe doch geschossen, der Mord sei geplant gewesen, gestand Ernst. Aber Markus H. sei auch mit vor Ort gewesen.
Am Mittwoch bleibt Ernst bei dieser Variante. Auf die Fragen von Opferanwalt Holger Matt räumt er nochmals ein, im Frühjahr 2019 den Mordplan mit Markus H. geschmiedet zu haben. Schildert, wie sich beide auf die Terrasse schlichen und er schoss. Matt hakt nach: Gab es weitere Mitwisser? „Von meiner Seite nein.“ Kollegen, die Bescheid wussten? Informanten im Dorf? „Nein.“
Ernst beantwortet die Fragen knapp, mit gedrückter Stimme, überlegt oft lange oder berät sich mit seinem Anwalt. Die Lübckes machen sich dazu Notizen. Immer wieder fragt Matt nach dem Tatmotiv. „Die Gesinnung“, sagt Ernst.
NSDAP-Programm auf dem PC
Die Verteidiger von Markus H. versuchen genau dieses Motiv zu zerstreuen. Wahrscheinlicher sei die Tat eines psychisch Gestörten, so ihr Einwurf. Am Mittwoch halten sie auch Sozialneid für möglich – weil sich Ernst in einer Ehekrise befand und Lübcke ein heiles Familienleben lebte. Ernst aber lässt keinen Zweifel, dass sein Antrieb der Hass auf die Flüchtlingspolitik war. „Und Lübcke war erreichbar.“
Immer wieder belastet Ernst dabei Markus H. Dieser habe ihn angestachelt, vor einem Bürgerkrieg gewarnt, Waffen zum „extremen Thema“ gemacht. Lübcke müsse aufgehängt werden, habe H. gesagt. Ob Markus H. andere eingeweiht habe, fragt Matt. „Kann ich nicht sagen.“ Der Opferanwalt aber verweist auf gelöschte Chats mit einem anderen Neonazi, Alexander S. Und auf ein längeres Telefonat am Tattag von Markus H. mit ebenjenem Alexander S. „Dazu kann ich nichts sagen.“
Auch BKA-Ermittlerinnen, die am Nachmittag aussagen, belasten Markus H., dem Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird. Auf seinem PC fanden sie Bilder des Neonazis in Uniform, mit Hitlergruß oder auf Szene-Aufmärschen, sie entdeckten Hitlers „Mein Kampf“ oder das NSDAP-Programm. All dies sei gelöscht gewesen, konnte aber wiederhergestellt werden.
Markus H. spricht erstmals
Markus H. – der zu den Vorwürfen schweigt – erhebt darauf erstmals das Wort, wirft ein, die Daten könnten doch von einem früheren Nutzer der Festplatte sein. Indes: Es waren nicht die einzigen Nazi-Devotionalien, die Ermittler bei ihm fanden.
Und so bleiben auch am Mittwoch offene Fragen. War Markus H. wirklich am Tatort? Wer trieb den Mordplan voran? Gab es nicht doch weitere Mitwisser? Matt fragt Ernst noch, ob er den Mord an Walter Lübcke bereue? „Ja, auf jeden Fall.“ Könne man sich darauf verlassen, dass er diesmal die ganze Wahrheit gesagt habe? „Ja.“
Jan-Hendrik Lübcke, der Sohn von Walter Lübcke, der seinen Vater sterbend auf der Terrasse fand, hatte schon Ende Juli im Prozess ausgesagt. Die Tat habe seine Familie „innerlich zerrissen“, sagte er. „Wir werden niemals damit fertig werden, was unserem Vater angetan wurde.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers