Mögliche russische Kriegsverbrechen: Tote von Butscha werden untersucht
Die Ukrainische Justiz führt tausende Verfahren wegen russischer Kriegsverbrechen. Im Osten der Ukraine gab es schwere Gefechte.
„Die Teams von Anklägern, Ermittlern und Experten unter Koordination der Generalstaatsanwältin der Ukraine dokumentieren in Butscha, Borodianka, Irpin und Hostomel jedes Kriegsverbrechen der Besatzer“, erklärte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa auf Twitter. „Wir haben schon über 100 Seiten von Daten über die Besatzer in Butscha. Unsere Aufgabe ist es, alle zu identifizieren, die an den Massakern beteiligt waren.“
Am Freitag wurden 18 Leichen untersucht, bis schwerer Regen eine Unterbrechung erzwang, berichtet die britische Sonntagszeitung „Observer“. Einem Mann fehlte ein Großteil des Schädels, ein anderer war offenbar geköpft worden. Eine Leiche war so verbrannt, dass die untere Hälfte fehlte. Die Untersuchungen wurden am Wochenende fortgesetzt.
Während die Ermittlungsarbeiten vorangehen, werden in weiteren von der Ukraine zurückeroberten Orten immer weitere Leichen gefunden. Am Samstag wurde nach Behördenangaben ein Massengrab mit Dutzenden toten Zivilisten im Dorf Busowa entdeckt. Die Leichen hätten in einem Graben in der Nähe einer Tankstelle gelegen, sagte Taras Didytsch, Vorsteher der Gemeinde Dmytriwka, zu der Busowa und weitere umliegende Dörfer gehören, dem ukrainischen Fernsehen. Um wie viele Tote es sich handele, sei noch nicht klar. Busowa stand wochenlang unter russischer Besatzung.
Kiew: 1.200 tote Zivilisten
Bis Sonntagnachmittag hatte die Zahl der aufgefundenen getöteten Zivilisten in den von der Ukraine zurückeroberten Vorstädten von Kiew nach Angaben von Generalstaatsanwältin Wenediktowa 1.200 erreicht. Die Ukraine hat Ermittlungen zu 5.600 mutmaßlichen Kriegsverbrechen gegen 500 Verdächtige aus den Reihen des russischen Militärs und der Regierung in Moskau eingeleitet, unter ihnen Kremlchef Wladimir Putin, sagte sie.
In Zusammenhang mit diesen Verbrechen spricht die Regierung der Ukraine von „Völkermord“. Es wird erwartet, dass Präsident Wolodymyr Selenski dies bekräftigt, wenn er am Dienstag vor dem UN-Sicherheitsrat spricht und schärfere weltweite Maßnahmen gegen Russland fordert. Selenski empfing am Samstag den britischen Premierminister Boris Johnson in Kiew – der erste Besuch eines Regierungschefs eines ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieds seit Kriegsbeginn.
Am Sonntag untersagte die Ukraine alle Einfuhren aus Russland. „Heute haben wir offiziell die vollständige Einstellung des Warenhandels mit dem Angreiferstaat verkündet“, schreibt Wirtschaftsministerin Julia Swyrydenko auf ihrer Facebook-Seite.
Die lang erwartete russische Großoffensive im Osten der Ukraine, um den gesamten Donbass zu erobern, lässt derweil noch auf sich warten. Statt größerer Vorstöße mit Bodentruppen kommt es zu intensiven Luft- und Raketenangriffen. So wurden in der Stadt Siewierodonezk im Distrikt Luhansk nach Behördenangaben eine Schule und ein Wohnhochhaus beschossen. Russische Truppen hätten 66 Artillerieangriffe in mehreren Gebieten ausgeführt, schrieb der Gouverneur von Charkiw, Oleh Synjehubow, auf Facebook. „Wie Sie sehen können, ‚kämpft‘ die russische Armee weiterhin mit der Zivilbevölkerung, weil sie an der Front keine Siege errungen hat.“
Weitere Raketenangriffe
Bereits am Freitag waren bei dem russischen Beschuss des Bahnhofs von Kramatorsk – Hauptstadt des ukrainisch kontrollierten Teils des Donbass-Distrikts Donezk – 52 Menschen umgekommen, darunter Kinder und andere Angehörige von Familien, die sich zur Flucht in sicherere Landesteile versammelt hatten.
Am Sonntag meldeten die Behörden der Millionenstadt Dnipro im Zentrum der Ukraine, der Flughafen und die umliegende Infrastruktur seien durch Raketenbeschuss „vollständig zerstört“ worden. „Neuer Angriff auf den Flughafen von Dnipro“, teilte Gouverneur Valentin Resnitschenko auf Telegram mit. „Es ist nichts übrig geblieben.“ Die Angriffe dauerten noch an: „Die Raketen fliegen und fliegen.“
Westliche Militär- und Geheimdienstquellen bezweifeln, dass Russlands Armee nach der Niederlage in der Schlacht um Kiew kurzfristig zu einer neuen Offensive in der Ostukraine in der Lage ist. Es dürfte Monate dauern, bis Russland die im bisherigen Kriegsverlauf aufgeriebenen Kampfverbände wieder so weit rekonstituiert hätten, dass sie wieder wirksam eingesetzt werden könnten, schreibt das Institute for the Study of War in den USA in seinem neuesten Tagesbericht vom Samstagabend.
Viele neu zusammengestellte Kampfeinheiten zum Einsatz im Donbass seien aus Resten bereits besiegter Einheiten „zusammengewürfelt“ und damit praktisch unbrauchbar. Die US-Experten verweisen auch auf vermehrte Berichte, dass russische Soldaten sich weigern, im Donbass eingesetzt zu werden.
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