Modetrend Fischnetz: Worin sich die Beute verfangen hat

In diesem Sommer auf den vorderen Plätzen der Fashiontrend-Ranglisten: das Fishnet in all seinen denkbaren Facetten.

Eine Frau steht auf der Straße, in ihrer Hand eine Fischnetztasche, durch die man gelbe Äpfel sehen kann.

Die Fishnet-Tasche schweigt nicht über ihren Inhalt Foto: Edward Berthelot/getty images

Als Kind war ich fasziniert von einer Netztasche, die genau genommen ein simpler Einkaufsbeutel war. Die Dinge blieben sichtbar in ihm, sie konnten sogar herausfallen. Mir schien das irgendwie elegant und großzügig zu sein, ohne dass ich es hätte ausdrücken können.

Seit Jahren ist das Fishnet wieder da. Wobei es nicht wirklich weg war, aber die Fashion­scouts platzieren die diamantförmigen Maschen nun auffällig lang schon mal auf den mittleren oder, wie in diesem Sommer, auf den vorderen Listenplätzen des Trends.

Es gibt so ziemlich alles aus Fishnet: Kleider, Röcke, Tops, Strumpfhosen selbstverständlich, die hoch über den Rand der Jeans gezogen das Dessous mit ironischer Artigkeit kombinieren.

Ja, und jede Menge Taschen gibt es, die von einigen Labels seltsamerweise mit Schutzfolien ausgelegt werden, damit beim Shoppen, wie es heißt, wirklich nichts mehr verloren geht. Als wäre es der Sinn einer Fishnet-Tasche, dass sie alles für sich behält und über den Inhalt schweigt.

Regelwerk für Fishnet-Gebrauch

Im Netz ist die Beute. Der Fang. Dieser offensichtliche Zusammenhang macht das Fish­net für die bürgerliche Mode kompliziert. Denn worüber sie lieber schweigen möchte, zeigt das Netz vor aller Welt her. Die Spielregeln müssen es richten, der Sinn für die Grenzen des guten Geschmacks, und wenn es gar nicht mehr anders geht die Stylingtipps auf Youtube.

Dort wird vor Übertreibungen gewarnt, vor dem billigen Anschein und der Lächerlichkeit. Hat man den Trend auch richtig verstanden und sieht der eigene Körper gut genug aus?

Zum Fishnet soll man stets etwas Festes tragen, irgendetwas Solides wie einen Blazer oder ordentliche Schuhe und soll sich, solange die Effekte des Fishnet noch nicht richtig gelernt sind, mit kleineren Artikeln wie Netzsöckchen begnügen.

Der Trend knüpft seine Empfehlung an Bedingungen. Wie im Leben ist die Liebe auch in der Mode selten rückhaltlos. Außerdem, wie gesagt, ist das Risiko der Blamage in Bezug auf das Fishnet maximal hoch.

Umso interessanter ist er ja, der Trend. Könnte es nicht sein, dass er nach eineinhalb Jahren tiefer Krise besonders geeignet ist, um über Angst und Verlust zu sprechen? Die spannenden Inszenierungen von Fishnet nehmen die Herausforderung an.

Lady Gaga macht es besser

Das Messer steckt im linken Oberschenkel, hat sich durch den Netzstrumpf tief ins Fleisch gebohrt. So beginnt das Video zu „Rain on Me“, das Lady Gaga, die eine viel intelligentere Interpretin des Fishnet ist, als es Madonna in ihrer ewigen Sorge ums Ego je war, zusammen mit Ariana Grande im vergangenen Spätsommer veröffentlicht hat. Wie nach einem tödlichen Kampf liegt sie da.

„Water like misery / It’s coming down on me“ – es regnet Schmerz. Die Messer fallen wie Regentropfen. Dem Konflikt ausweichen zu wollen, ist in einer Welt, in der niemand unschuldig ist („Living in a world where no one is innocent“), also völlig unmöglich. Vermutlich handelt das Fishnet von etwas sehr Ähnlichem.

Als Netz der Ambivalenz reicht es jedenfalls weit und motivgeschichtlich zieht es den mächtigen Mythos der Wasserfrau an Land. Wer sich die aktuellen Sommerkollektionen anschaut, wird die Figur der Meerjungfrau nicht übersehen können. Dinge wie ein Netzkleid, dessen Ärmel wie Wasser über die Hände laufen, eine fischflossensilbrige Hose (Acne Studios) überschlagen sich vor assoziativer Kraft.

Von einer Liebesaffäre zwischen einer Meerjungfrau und einem Hai spricht Riccardo Tisci (für Burberry) und deutet seine Kollektion als Rückkehr des Lebens nach der großen Einsamkeit. Er selbst ist in diesem Bild der Leuchtturmwärter, der das Paar zunächst draußen auf dem Ozean und dann in einem blühenden Wald betrachtet.

Mythos Meerjungfrau

Mit der Sehnsucht ist das Fish­net verknüpft, mit dem Wasservolk und den Fischern, die in ihren Netzen Meerjungfrauen finden, denen sie in Liebe verfallen und die sie mit ihrer Liebe tödlich enttäuschen. Undine wird von Männern gerufen, die ihn ersehnen, „den großen Verrat“ (Ingeborg Bachmann), der sie von dem Leben in festen Verhältnissen erlöst. Immer wieder kommt Undine an Land, immer wieder muss sie ins Wasser des Mythos zurück. Weg von den Grundstücken mit Gartentor und Swimmingpool.

Im Video übrigens lässt Lady Gaga ihre Undine bleiben, lässt sie zusammen mit einer Schwester der Lüfte (Ariana Grande mit Schmetterlingsflügeln auf dem Rücken) Widerstand entwickeln und tanzen. Das Messer der Trennung hat sie zunächst noch im Bein. Sie zieht es sich selbst aus der Wunde.

So sehr wie kein anderes Textil in der Mode ist das Fishnet ein Phänomen der Grenze. Es gehört dazu, und auch wieder nicht. In diesem Spannungsverhältnis wird es zu einer List der Mode. Sie solle nicht nackt und doch auch nicht angezogen zu ihm kommen, sagt der König im Märchen der Brüder Grimm, woraufhin die kluge Bauerntochter sich in ein Fischernetz wickelt. So befreit sie ihren Vater aus dem Gefängnis und gewinnt für sich einen Mann, den sie begehren kann.

Als Strumpf am Bein französischer Varietétänzerinnen wird es Ende des 19. Jahrhunderts für das Nachtleben wichtig, verklausuliert sich als erotischer Netzschleier an Damenhüten. Horst P. Horst fotografierte 1952 ein kleines, mit funkelnden Steinen besetztes Fishnet über dem makellos-strengen Gesicht Nina de Voes. Vom Wasser ist nur noch eine ferne Ahnung übrig, ein feiner Nebel aus Trauer und Stolz.

Kate Moss im Netz der Begierde

Mit Projektionen von Weiblichkeit und Begehren spielt auch ein anderes, nicht weniger berühmtes Foto. Albert Watson hat es 1993 in Marrakesch von der damals 19-jährigen Kate Moss gemacht. Es zeigt eine menschenferne, fast unwirkliche Schönheit mit einem über Wangen und Stirn gerissenen Netz. Eine „Fee der Wälder“ hat Albert Watson sie genannt.

Ein Zeichen der Distanz. Eine Chiffre des Konflikts. Für die bürgerliche Gesellschaft ist das Fish­net ein wie gesagt gefährliches Objekt, das dem Gesetz der diskreten Oberfläche zuwiderläuft. Das Fishnet ist nicht verschwiegen, schon gar nicht in Bezug auf den Körper. Tatsächlich ist es wohl eher eine Kommentarfunktion als ein Kleidungsstück.

Wo Netze auftauchen, ob in der Kunst oder der Mode, da ist Deutung. Ohne sie ist das Fishnet leer. Es spricht, verleitet zu Interpretationen; ein grobmaschiges schwarzes Fishnet-Top auf nackter Haut zu einem weit geschnittenen Sakko in zartestem Rosa (Longchamp) sagt zum Beispiel sehr deutlich: „Ich kenne mich aus.“

Nicht zu viel Haut, nicht zu wenig. Mit allen Wassern der Distinktion gewaschen, dient das Fishnet hier oder am Dekolleté eines langen Blumenkleides als hübscher Hinweis auf Verwegenes. Das wirkt ziemlich kalkuliert und deshalb auch wahnsinnig langweilig. Zu deutlich ist der Look auf Zustimmung bedacht. Anders gesagt, ihm fehlt ein bisschen der Mut zum Gefühl, zum Widerspruch und ja, der Sinn für Humor, für den das Fishnet etwa eines Jean-Paul Gaultier in Wahrheit wie geschaffen ist.

Reden, den Konflikt aushalten und nichts so sehr fürchten wie die Angst vor der Angst. Neulich in der Schlange des Drogeriemarkts fiel mir die Netztasche wieder ein. Und ein anthrazitfarbenes Hemd, das ich mir sehr viel später in den 90ern gekauft habe. Geliebt habe ich dieses Hemd, für seine feinen Maschen, seine Geduld, mit der es meine eigenen Ängste getragen hat. Irgendwann waren die Fäden aufgebraucht; ich sollte mir ein neues Netzhemd kaufen.

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