Mode-Accessoire Chalkbag: Wenn das Handy in der Kreide steht
Eigentlich fürs Trockenhalten kletternder Finger gedacht, baumelt der Kreidebeutel jetzt an Großstädterhüften. Muss das sein?
Es ist cool, immer ein bisschen Outdoorurlaub am Körper zu tragen. Immer einen Hauch von Berg, von Fels, von Salzwasser zu versprühen. Das war nicht immer so. Jack Wolfskin & Co wurden lange mit peinlichen deutschen Touris assoziiert; solchen, die sich in die gleichen moskitosicheren Hemden und Zip-Hosen wie ihr:e Partner:in hüllen, um mit dem Wohnmobil an den Gardasee zu fahren. „Funktionsjackenträger“ war eine Beleidigung.
Doch dann kam erst der Aufstieg der Outdoormarke The North Face zum In-Label, und inzwischen ist der Look, der vor ein paar Sommern noch nach Bietigheim-Bissingen aussah, zum Trend geworden. Viele, die in Trekkingschuhen durch Berlin-Neukölln schlendern, sind zwar noch nie auf einen Berg gestiegen, aber in den atmungsaktiven Schuhen mit Profil läuft es sich auch gut zur U-Bahn. Männer in Anglerwesten sah man früher nur in Kombination mit diesen dreibeinigen Klapphockern: an langsam fließenden Gewässern sitzen, Dosenbier in der einen Hand, einen Kescher in der anderen. Jetzt bestellen die Westenträger geeiste Americanos. Und in den Clubs zählt man mehr Fahrradbrillen als auf den Radwegen.
All diese Outdoordinge verbindet ein schlagendes Argument: Sie sind praktisch. In Trekkingschuhen rutscht man kaum aus. In die vielen Taschen einer Weste passt sämtlicher Alltagskram. Schnelle Brillen, sie schirmen das Auge besser vor Fliegen oder Zigarettenqualm ab als unsportliche Sonnenbrillen. Und sie sehen krass aus.
Aber einen Kreidebeutel als Tasche? Jetzt übertreiben es die Möchtegern-Draußis! Zur Erklärung: Beim Freiwandklettern oder Bouldern hängt man sich einen kleinen Beutel an die Hüfte, gefüllt mit Magnesiapulver – das aussieht wie Kreide –, um an der Wand die vor Angst oder Anstrengung nassen Finger in das trockene Puder tunken zu können. So lassen sich die Steine besser greifen.
Ein Hauch von Mittelalterfilm
Im Alltag muss man sich hoffentlich nicht oft wo emporhangeln. Trotzdem wird die Chalkbag – in Kletterhallen fragt niemand, ob er sich deine Kreide leihen kann, nein, im Jargon ist das chalk – nun immer häufiger zur Bauchtasche umfunktioniert, werden Portemonnaie, Handys und Schlüssel darin umhergetragen. Sie lässt sich mit einem Karabiner, dem Outdoor-Accessoire Nummer eins, an die Gürtelschlaufe clippen.
Bloß sehen an der Hüfte baumelnde Beutel leider selten lässig aus, sondern erinnern eher an Mittelalterfilme. In denen sind Händler:innen ein bisschen schmuddelig, verkaufen Hühner in Käfigen und tragen ihre Taler in kleinen Ledersäckchen am Gürtel. Der Schnürzug, mit dem der Kreidebeutel zugezogen wird, lässt mich an den Schlafsack denken, der sich nach dem letzten Festival partout nicht zurück in die Hülle stopfen lassen wollte. Ungefähr so praktisch ist eine Chalkbag auch: Anders als die Bauchtasche (noch so ein Ding, in dem früher nur Tourist:innen ihren Reisepass möglichst dicht am Körper trugen) oder die Anglerweste, hat sie nicht mehrere Fächer, stattdessen fliegt alles unkontrolliert darin herum.
Wofür ist sie im Alltag also gut? Für Hundeleckerli vielleicht. Dann bräuchten Hundebesitzer:innen keine Leine mehr, der Hund würde immer nah an der Hüfte seiner Besitzer:in bleiben, die Schnauze nach oben in die Duftwolke des Leckerlisäckchens haltend.
Insgeheim habe ich wohl auch ein bisschen Sorge, dass bald ständig Menschen mit Kreidebeutel am Hosenbund zu mir rüberkommen und mir erklären wollen, welchen Kaffee ich bestellen muss oder wo ich mein Fahrrad besser nicht anschließen sollte. Wie in der Kletterhalle, wo mir genauso ungefragt gezeigt wird, wie ich diese oder jene Route am besten klettere, obwohl ich doch eigentlich nur ein bisschen alleine scheitern möchte.
The North Face verkauft jetzt eine Chalkbag bei Zalando, dem größten Online-Modehändler Europas. Für 29,95 Euro bekommt man ein kleines Säckchen aus Polyester mit einem langen, buntgemusterten Tragegurt, mit dem man sich an der Wand im schlimmsten Fall strangulieren könnte. „Walls are meant for climbing“, Wände sind zum Klettern da, steht auf einem kleinen, an den Beutel angenähten Schild. Dieser Kreidebeutel wird wohl höchsten den Berliner Mauerstreifen überwinden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass