Mobilitätswende ausgebremst: Göttingen ignoriert den Radentscheid
Vor einem Jahr verpflichteten die Göttinger ihre Verwaltung zu vielen Verbesserungen für den Radverkehr. Aber konkrete Maßnahmen gibt es bislang kaum.
54 Prozent der stimmberechtigten Göttingerinnen und Göttinger votierten am 9. Juni 2024 für den ersten Teil des Radentscheids. Ein zweiter Teil, der weitere konkrete Maßnahmen zugunsten von Radler:innen vorsah, wurde knapp abgelehnt.
Wer fragt, was sich seitdem konkret getan hat, wird von der Stadt auf eine kleine Straße im Ostviertel hingewiesen. Auf dem Asphalt des Schildwegs markieren seit Ende November blaue Schraffuren eine sogenannte „Dooring-Zone“, in der unachtsam geöffnete Türen geparkter Autos zur Gefahr für Radfahrer:innen werden können. Ein Teil der Straße wurde zudem als Fahrradstraße ausgewiesen, Autos dürfen dort aber weiterhin fahren.
Maßnahmen, die nicht im Entscheid stehen
Beschlossen und geplant ist außerdem die Einrichtung einer geschützten Radspur („Protected Bike Line“) auf zunächst 150 Metern der Reinhäuser Landstraße, die vom südlichen Stadtrand in die Innenstadt führt. Laut Radentscheid sollen bis 2030 allerdings jedes Jahr mindestens 1,5 Kilometer Protected Bike Lane in Göttingen entstehen. Mit der Gaußstraße soll eine weitere Straße zur Fahrradstraße werden. Einige weitere kleine Maßnahmen wie Piktogrammketten auf mehreren Straßen und mehr Fahrradabstellplätze in der City sollen folgen, diese stehen aber gar nicht im Radentscheid.
Trotz der mageren Bilanz sieht die Stadtverwaltung das wenige bisher Erreichte als Erfolg. Er glaube, „dass wir durchaus zufrieden sein können“, sagte Stadtbaurat Friethjof Look dem Göttinger Tageblatt. Stadtsprecher Stefan Knichel betont, dass im Rathaus „intensiv an einer Umsetzung“ des Radentscheids gearbeitet werde. Neue Planungen seien angestoßen worden, es dauere aber bis zur Realisierung. Auch seien Stellen, die den Radentscheid umsetzen sollen, weiterhin unbesetzt.
Das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung bemängelt ein Vollzugsdefizit. Weniger als ein Prozent der Vorgaben des Radentscheids seien sichtbar umgesetzt worden. „Deutlich sichtbar“ sei aber, dass die Verwaltung die wenigen im Rathaus vorhandenen Kapazitäten bei Radverkehrsplanung, Tiefbau und Verkehrsbehörden für ganz andere Radverkehrsprojekte eingesetzt habe, sagt Francisco Welter-Schultes, der für das Bündnis im Stadtrat sitzt: „Und zwar für solche, die die SPD-geführte Verwaltungsspitze bevorzugt und die nicht im Bürgerentscheid stehen.“
Fast nichts umgesetzt
Die Trennung von Fahrrad und Auto auf Durchgangsstraßen sei bislang nicht umgesetzt worden, kritisiert er. Da die Göttinger Straßen zu eng seien, müssten hier Einbahnstraßen eingerichtet werden, um den Radverkehr sicher und getrennt vom Auto auf Protected Bike Lanes führen zu können.
Von den 34 Einzelvorgaben des Bürgerentscheids lassen sich dem Bündnis zufolge 13 als unmittelbar umzusetzende Beschlüsse bezeichnen. Davon seien etwa 10 quantifizierbar, ihre Auswertung lasse sich also in Zahlen oder Prozenten ausdrücken. Abgesehen von der angekündigten Protected Bike Line auf der Reinhäuser Landstraße seien die zwölf übrigen Vorgaben des Entscheids zu „jeweils null Prozent“ umgesetzt worden.
„In der Gesamtansicht ergibt sich eine quasi komplette Nichtumsetzung des Bürgerentscheids ein Jahr nach dessen Verabschiedung“, erklärt Welter-Schultes. Das Bündnis für nachhaltige Stadtentwicklung sieht darin einen Rechtsbruch: „Bürgerentscheide sind für eine Verwaltung rechtlich bindend und müssen umgesetzt werden.“
„Insgesamt ist die Umsetzung unzureichend“, urteilt auch Martin Hulpke-Wette von der Initiative Göttingen Zero, die den Radentscheid mit angeschoben hat. Das übergeordnete Ziel, Radverkehr, Autos und Fußgänger zu trennen, sieht Hulpke-Wette bisher nicht mal in Ansätzen erreicht. „So wird keiner ermutigt, lieber Fahrrad zu fahren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Angriffe auf den Iran
Bomben stürzen keine Diktatur
Debatte um Wehrpflicht
Wehret der Pflicht
Jens Spahn verzeiht sich selbst
Maskenaffäre? Milliardenschaden? Egal!
Bundeswehr
Rühren Sie sich, liebe Wähler*innen! Auf zum Veteranentag
Strafbarkeit von Holocaustvergleichen
Wir brauchen keine Metaphernpolizei
„Manifest“ aus den Reihen der SPD
Ein unwürdiger, reflexhafter Phrasenaustausch