Mitgefühl in Krisenzeiten: Wundern kommt auch von Verwundung
Wenn Menschen Mitgefühl für ihr Leiden einfordern, trifft es oft auf taube Ohren. Doch wenn niemand Opfern zuhört, schadet es der ganzen Gesellschaft.
S tolpern ist eine ungewollte Störung des Laufs der Dinge. Manchmal stolpere ich über Sätze und gehe danach direkt über sie hinweg, der Gewöhnung wegen und weil es sich dabei oft um eine Art Leergut handelt (Das ist eine Zäsur / So kann es nicht weitergehen / Das ist ein Angriff auf uns alle) – leer, weil so oft gesagt und so selten gelebt.
Das sprachliche Leergut liegt in der Timeline und niemand weiß, wohin damit. Kennt man, geht man vorbei. Aber manchmal bleibe ich hängen, weil ein Satz etwas Dringliches zu haben scheint. In letzter Zeit hier: Wo bleibt der Aufschrei?
Die Frage nach dem Aufschrei ist eine Anklage mit vielen Kläger*innen. Sie suchen Platz und Verstärkung für ihre Anliegen, ihre Wut, ihren Schmerz. Zuletzt nach dem Erbeben, dass die Türkei, Kurdistan und Syrien getroffen hat, vorher bei den Protesten im Iran, bei der Evakuierung von Kabul, bei der Flutkatastrophe in Pakistan.
Da erzählen Menschen, dass sie sich im Stich gelassen fühlen. Dass es ihnen wehtut, wenn sich Bekannte nicht nach ihnen, ihren Familien und Freund*innen erkundigen. Dass sie sich unsichtbar vorkommen, so wie schon ihre Vorfahren hier durchsichtig wurden.
Dass sie gesehen werden wollen von einem Land, das längst viel internationaler ist als seine Diskurse, weil schon mehr als jede*r Vierte Migrationsgeschichte oder -erfahrung hat. Ein Land, das Arbeitskraft importieren will, aber nur sehr wenig auf die Fäden gibt, die von hier in die Welt und zurück verlaufen.
Es gibt kein Recht auf Mitgefühl
Wo bleibt der Aufschrei? lese ich, und erwische mich dabei, wie ich sagen will: Was erwartet ihr denn? Es gibt eben kein Recht auf Mitgefühl. Wundert euch das? Wundert euch das wirklich? Bis ich sehen kann, dass wundern nicht nur von Verwunderung, sondern auch von Verwundung kommen kann.
Ja, man kann feststellen, dass es kein Recht auf Mitgefühl gibt. Dass Sympathieschmerz nur für Liebende ist. Dass es zur Minderheiten-DNA gehört, unaufhörlich auf die eigenen Belange aufmerksam machen zu müssen und sich dafür zu verachten, dass man dabei klingt wie ein quengelndes Kind am Rockzipfel der meisten.
Dass es nervt – die Forderung nach Aufschreien und Aufmerksamkeit –, weil niemand überall schreien kann. Oder dass die Dinge, die Menschen im Internet (nicht) teilen oder beim Bäcker (nicht) sagen, kein vollständiges Abbild ihrer selbst sind.
Erinnern, dass Mitgefühl ein Muskel ist
Man kann die Klagenden aber auch ernst nehmen. Fragen, warum da ein Gefälle ist zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Man kann sich erinnern, dass Mitgefühl ein Muskel ist. Man kann wissen, dass sich der Anschlag von Hanau zum dritten Mal jährt und Behörden und Politiker*innen eine umfängliche Aufklärung des 19. Februar 2020 noch immer verhindern.
Man kann lernen, dass das nicht nur ein paar wenige berührt, sondern der ganzen Gesellschaft schadet. Man kann sich dagegen wehren, dass Kaltland Kaltland bleibt. Man darf schreien, wenn es weh tut.
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