MitHaut und Haaren ausgeliefert

Für viele Gefangene verbessert sich im Gefängnis der Gesundheitszustand – zumindest körperlich. Doch sie sind abhängig von Anstaltsleitung und Personal – und ihre Behandlung ist ein Kostenfaktor

Der lange Gang: das „graue Haus“ der Justizvollzuganstalt Wolfenbüttel im Jahr 2003 Foto: Christian Wyrwa

Von Lotta Drügemöller

Was gibt es zu essen? Wann steh ich auf? Was mache ich in meiner Freizeit? Alles alltägliche Entscheidungen – die Gefangenen nicht offenstehen. Für sie ist fast jede Wahl, fast jeder Weg, fast jede Minute fremdbestimmt.

Gerade bei Notfällen kann sich dieses Ausgeliefertsein willkürlich anfühlen. Häftlinge beschreiben bedrückende Erfahrungen: „Um ca. 20.30 Uhr bin ich umgefallen und hab auf die Notrufanlage gedrückt. Ich mußte warten ca. 1,5 Stunden bis ein Beamter die Tür öffnete, ein Sanitäter war wieder mal nicht anwesend in der Anstalt“, berichtet ein Inhaftierter aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Hannover in einem Brief an die taz. „Darauf hin mußte ich 4 Std. auf den Notarzt warten.“ Als der schließlich eintraf, sei es ihm bereits etwas besser gegangen – „dieser hat mich dann aber nicht untersucht sondern ging seines Weges ohne mich auch nur zu berühren“.

Ein anderer Inhaftierter aus Hannover berichtet unter dem Pseudonym Avis Ähnliches: Wegen seines Lungenleidens COPD habe er im Jahr 2018 Erstickungsanfälle gehabt. „Trotz Notfallmeldung verblieb man in stoischer Ruhe“, schreibt er an die taz. „Meldung um 8:00 Uhr, der Knastsani kam erst um 12 Uhr plus.“ Seinem Würgen hätten die Aufseher keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt – bis auf eine Aufseherin, die sich „erdreistete zur Erheiterung meine Luftnot nachzuäffen“.

Der Gefängnisanwalt Till Alexander Hoppe bestätigt solche Erfahrungen: „Man ist völlig ausgeliefert“, sagt er. „Anträge auf Haftunterbrechung lehnt die Staatsanwaltschaft oft gnadenlos ab.“ Gerade vertritt er die Klage eines Gefangenen in Hamburger Gefängnis Fuhlsbüttel, der, so erzählt es der Anwalt, nach einem Herzinfarkt 20 Minuten lang eine Herz-Rhythmus-Massage von einem Mit-Inhaftierten bekommen hat; die Anstaltsleitung habe sich währenddessen nicht gerührt. „Ich kann von Dutzenden solcher Fälle berichten“, meint Hoppe.

Einzelberichte wie diese müsse man erst einmal mit Vorsicht bewerten, meint Katja Thane, die sich mit Kolleg*innen in der Public-Health-Abteilung der Uni Bremen mit der Gesundheitsfürsorge für Gefangene beschäftigt hat – schließlich zeigten sie nur eine Sicht des Geschehens. „Aber grundsätzlich ist es so, dass die Inhaftierten sehr abhängig sind vom Justizsystem.“ Ob sie zum Arzt können oder ins Krankenhaus gebracht werden, entschieden nicht die Gefangenen selbst.

Wie dramatisch die Situation objektiv ist, lässt sich tatsächlich schwer ermitteln. Das Gefühl des Ausgeliefertseins in existenziellen Notlagen aber ist für viele real – und liegt im System: Die abgeschlossene Struktur eines Gefängnisses geht mit einem großem Machtungleichgewicht einher.

Gefangene haben keine Krankenversicherung

Dabei ist im Gefängnis nicht alles schlecht: Viele Gefangene kommen in einem desolaten körperlichen Zustand in die Anstalten – in Drogensucht und Armut haben sich viele von ihnen nicht um Krankheiten gekümmert; in der festen Struktur eines Gefängnisses werden viele Probleme zum ersten Mal angegangen.

Trotzdem beharrt Manuel Matzke, Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO darauf: „Wenn wir in Deutschland ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem haben, dann ist der Vollzug die dritte Klasse.“ Das Problem für ihn: die mangelnde Selbstbestimmung – und der fehlende Versicherungsstatus.

Gefangene sind nicht über die gesetzlichen Krankenversicherungen versichert. Schon 1977, bei seiner großen Strafvollzugsreform, versprach der Bund, das zu ändern. Dazu gekommen ist es bis heute nicht. Denn die Kosten müssten die Länder übernehmen, und für die würde es nach einer alten Schätzung der Bundesregierung deutlich teurer, wenn Gefangene reguläre Mitglieder in den Sozialversicherungssystemen wären.

„Wer krebskrank in den letzten Zügen ist, der wird entlassen – und das nicht nur aus Güte. Das ist ein Sparprogramm für die Länder, die dann nicht mehr zuständig sind“

Till Alexander Hoppe, Gefangenen-Anwalt

Mangels Versicherung sind es die Gefängnisse selbst, die medizinische Kosten übernehmen. Mehr oder teurere Therapien, teurere Medikamente, jeder Arztbesuch schlägt sich somit im Budget der Haftanstalten nieder. Laut ­Matthias Koch, Sprecher der Justizsenatorin in Bremen, bekommt dennoch jeder Gefangene „die Behandlung, die er braucht“. Die Justizvollzugsanstalten müssten nicht anderswo sparen, nur weil in einem Jahr die Gesundheitskosten höher sind als in einem anderen.

Sparen müssen die Anstalten dennoch – und das Kosten ein Faktor sind, leugnet auch Koch nicht: „In der Hepatitisbehandlung gibt es ein paar Medikamente, die in ein paar Monaten so viel kosten wie ein Kleinwagen“, sagt er. Die würden nicht einfach so verschrieben. „Vor dem Problem stehen wir, da steht aber auch jeder Kassenversicherte.“

Die Behandlung in den Gefängnissen soll sich am Standard der gesetzlichen Krankenkassen orientieren, doch die Zahlen sagen etwas anderes. Das, was die einzelnen Länder faktisch pro Person ausgeben, variiert stark. Niedersachsen veranschlagt jährlich pro Gefangenem Gesundheitskosten von 4.238 Euro, in Hamburg waren es zuletzt (ohne Krankenhauskosten) 3.852 Euro, in Schleswig-Holstein 3.095 Euro. In Bremen ergeben sich grob überschlagen nur 1.800 Euro pro Gefangener – diese Zahl aber, so der Sprecher der Justizbehörde, sei mit denen der anderen Länder nicht zu vergleichen, da die Bremer Angaben nicht erfassen, wer beispielsweise als Freigänger krankenversichert ist und aus der Statistik herausfällt – es fehlen Daten.

Trotz der teils unklaren Zahlen lohnt sich der Vergleich mit der Welt jenseits der Gefängnismauern: Krankenkassen gaben 2018 für ihre Versicherten durchschnittlich 4.712 Euro aus – mehr also als selbst die Justizbehörde in Niedersachsen. Zwar sind Gefangene jünger als die Durchschnittsbevölkerung, allerdings meist auch gesundheitlich deutlich stärker vorbelastet: Viele von ihnen bringen eine Drogensucht mit – in Hamburg etwa 37 Prozent der männlichen Gefangenen. Dazu kommen Krankheiten wie HIV und Hepatitis, die oft Begleiter einer Drogensucht sind. Niedrigere Kosten sind also über einen niedrigeren Bedarf nicht zu erklären. „Das System spart sich tot“, sagt Matzke von der Gefangenengewerkschaft.

Anwalt Hoppe vermutet gar, dass teure Krankheiten zu früherer Freilassung führen: „Wer krebskrank in den letzten Zügen ist, der wird entlassen – und das nicht nur aus Güte“, so Hoppe. „Das ist ein Sparprogramm für die Länder, die dann nicht mehr zuständig sind.“ Zumindest grundsätzlich bestätigt das Gesundheitsforscherin Thane: „Gerade bei teuren Behandlungen wird tatsächlich geschaut: Muss das in jedem Fall noch in der Haft laufen?“

Für die Gefangenen selbst beginnt aus diesem Grund mit ihrer Entlassung oft ein Kampf mit den Behörden. Obwohl es noch in der Haft eine Unterstützung für den bürokratischen Neustart gibt, können sich die Ex-Häftlinge erst am Tag der Freilassung bei den Krankenkassen anmelden. „Wenn aber jemand krebskrank ist, dann ist der ein brennendes Haus. Finden Sie mal eine Krankenkasse unter solchen Bedingungen“, sagt Hoppe.

Die freie Wahl des Arztes ist in der Haft nicht möglich

Die fehlende Krankenversicherung in der Haft schränkt auch die Selbstbestimmung in anderer Hinsicht ein: In Deutschland herrscht freie Ärzt*innenwahl; deshalb müssten auch Gefangene entscheiden dürfen, wer sie wie behandelt. Dass das in Haft nicht möglich ist, scheint auf den ersten Blick wie ein Luxusproblem. Doch Matzke von der Gefangenengewerkschaft gibt zu bedenken: Wenn etwa der Psychotherapeut zur Anstalt selbst gehört, dann ist das Vertrauensverhältnis arg vorbelastet: „Woher soll der Gefangene wissen, dass seine Aussagen nicht doch in die nächste Entscheidung über seine Haft einbezogen werden?“

Blick von oben: ein Wärter auf seinem Posten in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel Foto: Christian Wyrwa

Um die Bedingungen zu verbessern, fordert Thane vor allem mehr Personal – in allen Bereichen der Gefängnisse. Nur so könne die Entscheidungsfreiheit von Gefangenen einigermaßen gewährleistet werden, meint sie: „Dass jemand nicht ins Krankenhaus gebracht wird, kann eben auch damit zusammenhängen, dass es gerade zu wenige Personal gibt.“

Und wenn es so wäre, hätten wir dann den gesunden Knast? Thane überlegt. „Ein bisschen ist das ein Paradox“, sagt sie schließlich, „so richtig gesund kann eine totale Institution einfach nicht sein.“ Es ist das Gefängnis selbst, das krank macht, zumindest auf den Ebenen der psychologischen und sozialen Gesundheit.

Eine echte Lösung des Problems sieht Thane daher eigentlich nur in der Abschaffung von Gefängnissen. „Zumindest könnte man mal damit anfangen, das Drogenstrafrecht zu ändern, damit viele Gruppen nicht mehr in der Haft landen“, schlägt sie vor.

Als Public-Health-Forscherin arbeiten Thane und ihre Kolleg*innen trotzdem daran, die Gesundheitsfürsorge in den Gefängnissen zu verbessern. Bei einem Projekt der Universität kommen Studierende als Ehrenamtliche in das Bremer Frauengefängnis und arbeiten dort mit den Gefangenen – gemeinsam wird gekocht oder über Verhütung gesprochen, auch eine Massage ist mal dabei.

Doch bedeutet ein solches Angebot nicht, ein System zu stützen, dass Thane eigentlich abschaffen will? „Ja, auf den Gedanken kann man kommen“, sagt sie. „Aber es ist auch ziemlich zynisch zu sagen: Wir machen jetzt mal gar nichts, damit alles erst mal schlimmer wird. Es soll den Menschen doch eigentlich gut gehen.“