Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus: „Kein Vertrauen in die Kirche“

Aufarbeitung sei ein grundlegendes Recht von Betroffenen, sagt die Missbrauchsbeauftragte. Von der Evangelischen Kirche fordert sie schnelle Maßnahmen.

Eine Frau sitzt vor einer blauen Wand und spricht

Fordert mehr Einsatz für Betroffene: Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus Foto: Chris Emil Janssen/imago

taz: Frau Claus, nach jahrelangem Wegducken hat die EKD nun eine Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche vorgestellt. Das Studienteam spricht von der „Spitze der Spitze des Eisbergs“.

Jahrgang 1969, ist seit März 2022 Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.

Kerstin Claus: Die Einordnungen, die die Wissenschaftlerinnen heute vorgenommen haben, sind ja sehr eindeutig. Sexuelle Gewalt ist auch in der evangelischen Kirche vielfältig verübt worden, durch Pfarrer genauso wie durch pädagogisch tätige ehrenamtliche Kräfte und viele weitere. In diesem Sinne kann ich diesen Ausdruck der Spitze der Spitze des Eisbergs verstehen, wenn die Disziplinarakten die einzige Grundlage sind die systematisch ausgewertet wurde. Ich gehe sehr davon aus, dass gerade über diese Studie sich weitere Betroffene melden werden.

Die Studie bezieht sich nicht nur auf die Kirchen, sondern auch explizit auf kirchliche Einrichtungen wie die Diakonie. Sehen Sie auch Bedarf in der Katholischen Kirche in solchen Einrichtungen Nachforschungen anzustellen?

Ich sehe den Bedarf, überall dort nachzuforschen, wo Kinder und Jugendliche sich in ihrem Alltag – sei es Schule, sei es Jugendhilfe, Einrichtungen der Caritas oder der Diakonie, aber auch in ihrer Freizeit, im Sport oder bei anderen Angeboten – aufhalten und aufgehalten haben. Das Spannende für mich heute war auch, dass deutlich gesagt wurde: Täter waren vielfach mehrfach Täter, und nur wenn die ersten Meldungen ernst genommen werden und dann auch nachgeforscht wird, kann tatsächlich auch präventiv reagiert werden.

Im Vergleich zur EKD setzt sich die katholische Kirche seit Jahren mit der Thematik auseinander, jetzt erst die evangelische Kirche. Wie erklären Sie sich das?

Es gab heute dieses geflügelte Wort von „Wir sind die bessere Kirche“ als eine Haltung, die den Wissenschaftlerinnen entgegen geschlagen ist. Eine solche Haltung verursacht haufenweise blinde Flecken, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Aus dieser Haltung heraus entsteht ein Narrativ, dass man sagt: Naja, das sind Einzelfälle, und das sind einzelne Täter. Dahinter konnte sich die Kirche sehr lange sehr gut verstecken. Die Studie hat jetzt gezeigt: Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt es auch in der evangelischen Kirche nicht nur in Einzelfällen. Auch hier gibt es Machtstrukturen und Abhängigkeiten sowie Vertrauensverhältnisse, die massiv ausgenutzt werden.

Welche Konsequenzen müssen aus der Studie folgen?

Unmittelbar muss all das getan werden, was nicht getan wurde. Es müssen Personalakten ausgewertet werden, es muss die Frage gestellt werden, wer verantwortlich war oder immer noch ist. Es braucht unabhängige Strukturen, an die sich Betroffene wenden können, und es braucht, bezogen auf die Frage der Entschädigungszahlungen, ein ähnliches System wie in der katholischen Kirche. Dafür braucht es Transparenz und klare Kriterien.

Im November ist die EKD-Synode. Welchen Fahrplan erwarten Sie bis dahin?

Man kann den Betroffenen, und auch den Gemeinden, die in vielen Teilen jetzt erschüttert sein werden, nicht zuzumuten, jetzt nichts zu tun. Es wundert mich, dass heute noch nicht klar war, was jetzt getan wird. Wohin werden jetzt eigentlich Betroffene verwiesen, die sich melden? Wie klären wir das mit der Anerkennung, den Leistungen? Dazu muss man sämtliche kirchliche Verantwortungsträger zusammentrommeln, die hier sehr schnell eine Lösung finden müssen. Und das muss alles transparent sein, denn wenn ich die Diskurse nicht sichtbar mache, wenn ich sie im Hinterzimmer oder in einem Beteiligungsforum debattiere, wird sich nichts ändern.

Eine Betroffene forderte bei der Vorstellung der Studie die Stärkung ihres Amtes, anstatt die Aufarbeitung in der Kirche zu belassen. Wie sehen Sie sich in der Pflicht?

Da wird ja sichtbar, dass Betroffene kein Vertrauen mehr in die Kirche haben, dass sie die Aufarbeitung aus eigener Kraft hinbekommt. Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, Aufarbeitung zu stärken und gesetzlich zu verankern. Ich sehe das tatsächlich als Notwendigkeit an. Es muss klar sein, dass Aufarbeitung ein grundlegendes Recht von Betroffenen ist und dass die individuelle Position von Betroffenen in solchen Prozessen gestärkt wird. Dieses Gesetz ist in Arbeit und in der Ressortabstimmung. Dazu gehört auch die strukturelle gesetzliche Verankerung des Amtes der Missbrauchsbeauftragten, aber auch der Aufarbeitungskommission. Wichtig ist auch, dass Kirche kirchenrechtlich festlegt, dass Betroffene ein Recht auf Aufarbeitung haben. Der Bund kann hier die Position von Betroffenen stärken.

Dafür werden Sie Geld und Personal brauchen.

Wenn wir Betroffene stärken wollen, dann wird das nicht kostenlos möglich sein. Wir werden als Gesellschaft aushandeln müssen: Was braucht es für Ressourcen, wenn wir Kinder und Jugendliche heute besser schützen wollen? In der momentanen Haushaltslage ist diese Debatte schwierig. Aber ich möchte, dass es darüber eine parlamentarische Debatte und eine öffentliche Debatte gibt.

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