Missbrauch im Kinderheim: „Wir waren dort Zöglinge ohne Wert“
Betroffene leiden ihr Leben lang an erlebten sexuellen Übergriffen, Gewalt und Zwangsarbeit. Eine Kommission fordert nun Aufarbeitung.
Als Corinna Thalheim als Jugendliche nach Torgau kam, musste sie sich nackt ausziehen. Vor Menschen, die sie nicht kannte und die ihre Körperöffnungen kontrollierten, damit sie nichts in den Jugendwerkhof einschmuggeln konnte. „Das gleicht einer Vergewaltigung“, sagt sie heute.
Schon dieses „Aufnahmeritual“ habe die 14- bis 18-jährigen, die ins Kinderheim Torgau kamen, gebrochen. Wie viele von ihnen hat auch Corinna Thalmann dort sexualisierte Gewalt erfahren, der Direktor vergriff sich an seinen Schutzbefohlenen. „Torgau war zu Zeiten des Kaiserreichs schon eine Haftanstalt, und sie war es bis zum Ende der DDR“, sagt sie.
Ioannis war von 1945 bis 1965 in mehreren Kinderheimen in der BRD, auch in der Arbeiterkolonie Freistatt. Er nennt sie das Torgau des Westens. „Wir waren dort Zöglinge ohne Wert.“ In Freistatt wurde Ioannis zum Arbeiten gezwungen. Sechs Tage die Woche, von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends.
Auch er erfuhr sexualisierte Gewalt in dieser von der Diakonie betriebenen Einrichtung. Als er das meldete, wurde er vor den anderen Jugendlichen nackt ausgezogen, ausgepeitscht und in einen dunklen Bunker gebracht. Als er versuchte, sich in Freistatt das Leben zu nehmen, führte das zu Schlägen, er wurde mit kaltem Wasser übergossen und musste zurück in den Bunker.
Zwangsarbeit und Gewalt
Am Dienstag veranstaltete die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ein Hearing zu Missbrauch in der Heimerziehung. Dort erzählten Corinna Thalmann, Ioannis und weitere Betroffene von den Verbrechen, die an ihnen begangen wurden.
In den Heimen erlitten viele sexuellen Missbrauch und Folter, an ihnen wurden mit Einverständnis der Heimleitungen Medikamente getestet. Weil sie Zwangsarbeit verrichten mussten, kam oft ihre Schulbildung zu kurz, sie konnten später nur schlecht bezahlten Berufen nachgehen, im Alter haben deswegen viele eine zu geringe Rente, um würdevoll zu leben.
Dazu kommen posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Bindungsprobleme und Stigmatisierung. Die Vorstellung, ihren Lebensabend wieder in einer staatlichen oder kirchlichen Einrichtung zu verbringen, ist für sie oft unvorstellbar.
Auch nach der Wende und bis heute seien Mangel und Gewalterfahrungen in staatlichen Heimen keine Seltenheit, wie jüngere Betroffene berichten.
Aufarbeitung sollte nicht Aufgabe der Betroffenen sein
Viele der Anwesenden kämpfen für die Aufarbeitung dieser Verbrechen. Doch das sollte Aufgabe der Gesellschaft und der Institutionen sein, in denen sie stattgefunden haben, so Heiner Keupp von der Aufbereitungskommission.
Etwa ein Drittel der Kinder und Jugendlichen haben in Erziehungsheimen sexualisierte Gewalt erfahren, so der Professor für Sozialpsychologie.
Zwischen 2012 und 2018 gab es zwei Fonds, durch die ehemalige Heimkinder Entschädigungen erhalten konnten. Doch zu wenige erfuhren davon, und für viele war es demütigend und schwierig nachzuweisen, dass sie Betroffene sind. Eine Teilnehmerin am Dienstag berichtet, sie habe vor 13 Jahren ihren Antrag gestellt, doch sie würde das heute nicht noch einmal tun. „Man glaubt mir nicht. Ich bin über diesen Staat, der sich Rechtsstaat nennt, bitter, bitter enttäuscht.“
Betroffene fordern höhere Renten und Anerkennung
Beim Hearing erarbeiteten die Betroffenen, WissenschaftlerInnen und die Aufbereitungskommission einen Katalog von Forderungen: Erhöhung der Rente von Betroffenen um monatlich mindestens 300 Euro. So wurde es in Österreich gemacht. Erleichterung der Nachweispflichten. Eine Anerkennung und Auseinandersetzung mit den Verbrechen durch den Bundestag und die Einrichtungen eines Erinnerungsortes. Außerdem mehr Sensibilisierung zu Machtmissbrauch in Bildung, sozialer Arbeit und bessere Therapieangebote.
Eine Sprecherin der Diakonie betonte, weiter an der Aufarbeitung der Verbrechen mitwirken zu wollen. Die Diakonie sei an diesem Tag vor allem da, um zuzuhören. Ioannis, der als Betroffener für die Aufarbeitung kämpft, zeigte sich sichtlich unbeeindruckt von diesen Versprechen. „Mit über achtzig Jahren habe ich nicht mehr so viel Zeit, wie sich die Kirche zum aufarbeiten nehmen möchte!“
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