Milieus in Deutschland: Fällt die politische Mitte auseinander?
Eine Analyse, die der taz exklusiv vorliegt, zeigt: Die Wähler:innenschaft ist entlang der Konfliktlinie Modernisierung polarisiert.
Diese Fragen hat eine Wahlanalyse der Bertelsmann Stiftung untersucht, die der taz exklusiv vorliegt. Die Erhebung stützt sich auf die sogenannten Sinus-Milieus, die die deutsche Bevölkerung in Lebenswelten einteilen. Darunter versteht man Gruppen Gleichgesinnter, die neben der ähnlichen sozialen und ökonomischen Lage auch ähnliche Wertvorstellungen haben.
Angesichts der Selbstdemontage der Ampelparteien durch eine schlechte Regierungsperformance hätten es CDU und CSU nicht geschafft, hiervon zu profitieren, so die Analyse. Insgesamt büßten SPD, Grüne und FDP fast 30 Prozentpunkte in den Milieus der Mitte ein – bei der Union landeten davon lediglich fünf Prozentpunkte. Ein Alarmsignal für die Union, die in ihren Stammmilieus schlecht abgeschnitten habe.
Das sticht am Beispiel der „adaptiv-pragmatischen Mitte“ hervor, also der Personen, die sich als zukunftsoptimistisch, veränderungsbereit, aber auch pragmatisch beschreiben. Neben dem Wunsch nach Humanität sind ihnen Ordnung, Kontrolle und Sicherheit wichtig, sie stellen 12 Prozent der Bevölkerung. Hier konnte die Union seit 2021 nur wenig hinzugewinnen, während die AfD um 19 Prozentpunkte zulegte.
Jetzt liegen Union und AfD mit jeweils 32 Prozent gleichauf. „Die Unionsstrategie der Fundamentalopposition hat ihre Kernwählermilieus offenbar nicht überzeugt – sie hat sie eher in die Arme der AfD getrieben“, sagt Robert Vehrkamp, Autor der Wahlanalyse. Wer AfD-Narrative bediene, stärke das Original.
Konfliktlinie durch die Mitte
Besonders schwer habe es die ehemalige Volkspartei SPD getroffen. Im „prekären Milieu“ verlor die SPD 21 Prozentpunkte, in der „adaptiv-pragmatischen Mitte“ halbierte sich ihr Ergebnis. Zwar konnte sie bei progressiven Gruppen wie den „Postmateriellen“ und „Performern“ überdurchschnittlich abschneiden, doch ihr Profil als Volkspartei verblasse.
Die Grünen blieben eine Milieupartei, obwohl sie eher einen Volkspartei-Wahlkampf gemacht hätten, sagt Vehrkamp. Während sie bei ihrer Kernwähler:innenschaft – etwa den „Postmateriellen“ – um 11 Prozentpunkte im Vergleich zur vorherigen Wahl zulegen konnten, fielen sie in anderen Milieus unter 5 Prozent. Eine klassische Milieupartei mit stabiler Kernwähler:innenschaft zu sein, könne aber auch eine Stärke sein.
Insgesamt könnten die zehn Sinus-Milieus in drei Gruppen eingeteilt werden. Den einen Pol bildeten modernisierungsskeptische Milieus. In der Mitte fänden sich die „Modernisierungsanpasser“, Personen, die längst Wärmepumpen verbauten, aber abgestoßen seien von ideologischer Klimapolitik. Den anderen Pol bildeten die „Modernisierungsbefürworter“. Bei der Wahl habe sich nun eine polarisierte Parteienlandschaft entlang der Konfliktlinie Modernisierung herauskristallisiert.
Diese Konfliktlinie gehe diagonal durch die Mitte. „Scheitert die Regeneration der Mitte, droht eine parteipolitische Bipolarisierung in zwei unversöhnliche Lager“, sagt Vehrkamp. Auf der einen Seite würden sich CDU/CSU, AfD und FDP zum nationalkonservativen Lager gruppieren, auf der anderen Seite SPD, Grüne und Linke mit einer progressiven Ausrichtung. Bei der Abstimmung über den Migrationsantrag der Union am 29. Januar sei diese Lagerbildung erstmals politische Realität geworden.
Dabei müsse die Mitte für beide Lager anschlussfähig bleiben, sagt Vehrkamp. Zentral dafür sei die Kooperations- und Koalitionsfähigkeit aller Parteien der Mitte. Dazu zähle auch eine erneuerte Linkspartei. Ansonsten drohe schon bei den nächsten Wahlen in ostdeutschen Bundesländern, dass es keine Regierung ohne AfD-Beteiligung gäbe.
Wenn die Mitte scheitert, scheitert dann auch die Demokratie? Nein, aber eine Demokratie ohne Mitte sei deutlich riskanter, sagt Vehrkamp. Ein Blick in die USA unter Donald Trump reiche dazu aus.
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