Migration nach Europa: Die Weiterflucht
Ein Großteil der syrischen Geflüchteten ist im Nachbarland Jordanien untergekommen. Viele wollen jetzt weiter nach Europa. So etwa Mohammad Ali Hamad.
D as ist er“, sagt Ayat al-Masalmeh und streckt den Bildschirm des Smartphones entgegen. Zu sehen ist das Foto von Mohammad Ali Hamad, 34 Jahre alt, Ehemann von Ayat, Vater von Elyan und Amir, vier und sieben Jahre alt, seit fünf Monaten vermisst. Ein junger Mann mit getrimmtem Bart, kurzen schwarzen Haaren und gelbem T-Shirt, der auf dem Bildschirm nachdenklich lächelt.
Das letzte Mal, dass Ayat Mohammads Stimme gehört hat, war am 8. Juni, er schickte ihr eine Sprachnachricht: Er steige bald ins Boot, auf dem Mittelmeer werde er keinen Empfang haben. Sie solle sich keine Sorgen machen, er melde sich bald aus Italien wieder. Tagelang hat Ayat in der jordanischen Stadt Ar-Ramtha gewartet. Auf einen Anruf, eine SMS, ein paar Zeilen im Chat. Auf ein Lebenszeichen. Nichts.
Mohammad ist am 9. Juni am Hafen der libyschen Küstenstadt Tobruk auf ein Schiff in Richtung Italien gestiegen. Einen 20 bis 30 Meter langen Fischkutter, alt und verrostet. Mit ihm Hunderte weitere Menschen, einige offenbar verzweifelt, andere hoffnungsvoll. Manche, die sich in letzter Minute doch nicht mehr getraut haben, unter vorgehaltener Pistole dazu gezwungen. So hätten es später Anwesende berichtet.
Ayat, ungeschminkt und mit weißem Kopftuch, sitzt jetzt auf einem blauen, goldverzierten Sofa neben Mohammads Vater, Mustafa Ali Hamad. Hinter ihnen lassen durchsichtige Gardinen mit blauem Blumenmuster das Sonnenlicht in den Raum sickern. Draußen, auf den Straßen der nordjordanischen Stadt Ar-Ramtha, laufen vollverschleierte Frauen mit ihren Kindern an der Hand auf zerbröselnden Gehwegen, zwischen Gebäuden mit verschmutzten Wänden.
Im Wohnzimmer blickt ein Kind mit braunen Augen und gelbem Pyjama kurz in den Raum. Als Ayat nach Jordanien kam, da war sie selbst noch ein Kind, wenn auch etwas älter als der Junge im gelben Pyjama, ihr Sohn Elyan. In der syrischen Stadt Dar’a, zwölf Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Grenze, war der Bürgerkrieg 2011, zwei Jahre zuvor, ausgebrochen. Und zwar als Teenager Graffiti gegen Präsident Assad an eine Wand sprühten, festgenommen wurden und daraufhin die Wut auf das Regime in massive Proteste mündete. So zumindest die Rekonstruktionen im Nachhinein. Die Stadt wurde zum Epizentrum der gewaltsamen Auseinandersetzungen.
So entschloss sich Ayats Familie zur Flucht über die Grenze, nach Jordanien, so wie Hunderttausende andere Syrer*innen. Unter ihnen waren ihre Nachbarn, Mohammads Familie. Zehn Jahre ist das her. Inzwischen haben Ayat und Mohammad zwei Kinder. Sie ist mit 17 Jahren Ehe- und Hausfrau geworden, er hat an einer Tankstelle gearbeitet – schwarz. 250 Dinar bekam er im Monat, berichtet Ayat, das sind etwa 323 Euro. 100 seien für die Miete draufgegangen. Immer wieder habe sich Mohammad Geld leihen müssen.
Doch das habe anfangs noch funktioniert, sagt Ayat heute. Bis Corona kam. Die Preise stiegen, Mohammads Chef machte ihm klar, dass er nicht mehr lange irregulär an der Tankstelle arbeiten könne. Der Weg zu einem legalen Vertrag ist jedoch für syrische Geflüchtete nicht immer einfach. Sie dürfen in Jordanien offiziell nur in einigen Branchen arbeiten. Und die Arbeitslosigkeit ist selbst unter Jordanier*innen hoch: Sie liegt im Schnitt bei 22 Prozent; bei Menschen unter 25 Jahren beträgt sie sogar durchschnittlich 46 Prozent.
Jordanien hat etwa 1,3 Millionen syrische Geflüchtete aufgenommen, davon sind etwa 650.000 beim Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) registriert. Hinzu kommen mindestens 80.000 Geflüchtete anderer Nationalitäten sowie 2,3 Millionen Palästinenser*innen, die jedoch zum größten Teil inzwischen die jordanische Staatsangehörigkeit haben. Insgesamt hat das Land gut 11 Millionen Einwohner*innen. Das bedeutet weltweit die zweithöchste Anzahl von Geflüchteten pro Kopf nach dem Libanon. Gleichzeitig leidet das Königreich unter Wasserarmut und hohen Arbeitslosenquoten.
Und die Geflüchteten trifft die Krise überproportional heftig: Laut einer jüngsten UNHCR-Umfrage sind 93 Prozent aller syrischen Flüchtlinge, die außerhalb der Camps leben, verschuldet. Mehr als die Hälfte aller befragten Haushalte hatte Schwierigkeiten, den Strom zu bezahlen, und etwa die Hälfte musste die Anzahl ihrer Mahlzeiten reduzieren. Die Arbeitslosigkeit lag bei dieser Bevölkerungsgruppe im Schnitt bei 28 Prozent.
„Mohammad dachte darüber nach, wie er für die Bedürfnisse der Familie sorgen könnte. Er beschloss, nach einer Möglichkeit außerhalb Jordaniens zu suchen“, sagt Ayat. Ende April hatte Mohammad sich entschieden: Er wollte nach Europa. Andere, viele vor ihm, hatten die Reise unternommen, die Route war klar, die Kontaktdaten der Schlepper nicht schwer zu finden.
Alle wüssten, dass in Europa zu leben ein Privileg sei, sagt Ayat. Gute Bildung, freie Arbeitswahl, die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen. Ein besseres Leben für die Kinder, besser als ihres bislang. Doch Ayat hatte schon immer Angst vor dem Meer, eine Phobie geradezu. Im Rückblick wirkt es beinahe, als hätte Ayat eine Vorahnung gehabt, was mit Mohammad passieren würde.
Mohammad habe ihr gesagt, sie solle Vertrauen haben – nicht so sehr in die Schlepper, sondern in Gott, dass er ihn unversehrt ans andere Meeresufer leitet, erzählt Ayat, und im Hintergrund ertönt der Gesang des Muezzins, der aus der nahegelegenen Moschee zum Gebet ruft. „Wir waren hin- und hergerissen, zwischen der Angst und der Überzeugung, dass wir ein besseres Leben finden würden. Und wir sahen die anderen, die es geschafft hatten.“
Die Familie bringt das Geld zusammen, bezahlt die Schleuser, syrische und libysche Männer, nur einen Teil zunächst. 6.000 Dollar, knapp 5.500 Euro, wird die Fahrt insgesamt kosten. Am 5. Mai beginnt die Reise. Mohammad steigt am Flughafen der jordanischen Hauptstadt Amman in ein Flugzeug nach Ägypten. Von dort geht es auf dem Landweg weiter nach Libyen. Immer wieder meldet sich Mohammad bei Ayat und seinem Vater, meistens dann, wenn er ein Internetcafé findet.
Noch nie waren Mohammad und Ayat so lange getrennt. Doch beide versuchen, die Angst hinter der Hoffnung zu verstecken, dass ab jetzt alles nur noch besser werden kann. In Libyen stockt derweil die Reise. Mohammad muss warten, einen Monat lang, sein Visum läuft langsam ab. Die libyschen Behörden versuchen, den Migrant*innen auf die Schliche zu kommen. Die Schleuser verstecken die Menschen in Lagerhäusern. Fünf Tage lang hat die Familie keinen Kontakt mehr zu Mohammad, so erzählen sie es. In dieser Zeit versucht der junge Mann, vor den Behörden in die Berge zu fliehen. Doch er wird von der Polizei aufgegriffen.
Letzte Nachricht von Mohammad Ali Hamad
Auf dem Weg ins Polizeirevier, als die Polizisten Essen besorgen wollen, kann Mohammad entkommen. Die Schlepper schicken einen Wagen, um ihn abzuholen. Und so kommt Mohammad an jenem 8. Juni am Hafen von Tobruk an, zusammen mit Hunderten anderen Menschen, aus Syrien, Ägypten, Pakistan. Hier schickt er noch eine letzte Nachricht an die Familie zu Hause: „Wenn ihr mich heute Nacht nicht erreichen könnt, bedeutet das, dass ich bereits auf dem Boot bin.“ Er melde sich dann wieder.
Vier Monate später wartet Ayat im Haus ihrer Schwiegereltern im nordjordanischen Ar-Ramtha immer noch auf diese Nachricht. Das überfüllte Fischerboot, auf dem Mohammad zusammen mit Hunderten anderen Fliehenden fuhr, ging sechs Tage nach seiner letzten Nachricht unter. Immer wieder weint Ayat, während sie erzählt.
Bekannt geworden als das Schiffsunglück von Pylos, hat die Tragödie für heftige Kontroversen gesorgt. Nach einer Rekonstruktion der ARD und weiterer Medien sollen die gut 700 Geflüchteten stundenlang ohne Wasser und Essen auf dem Meer getrieben sein. Die griechischen Behörden sagen, das Schiff hätte Hilfe abgelehnt, dies bestreiten die Migrant*innen, die man nach ihrer Rettung befragt hat. Auch über das, was das Boot am Ende zum Sinken gebracht hat, herrscht Uneinigkeit: Die Überlebenden schildern, die griechische Küstenwache hätte das Schiff mit einem Seil abgeschleppt und es so zum Kentern gebracht. Die Behörden bestreiten das. Lediglich 104 Menschen konnten am Ende gerettet werden.
Tagelang warten Ayat und Mustafa im Juni auf ein Lebenszeichen Mohammads. Sie suchen die Nachrichten ab. Dann sehen sie auf dem Facebook-Status einer Freundin die Nachricht über das untergegangene Schiff. Ein Anruf bei den Schleusern bringt traurige Gewissheit: Mohammad war auf diesem Boot. „Wir versuchten, alle Informationen zu sammeln, die wir fanden“, sagt sie. Sie erfahren, dass die Menschen ohne Wasser und Nahrung auf dem Boot aushalten mussten. Sie sehen die Bilder in den sozialen Medien, auf denen die Passagiere wie Ameisen auf Deck zusammengepfercht sind; erfahren, dass viele im Rumpf des Schiffs ohne Fluchtwege ausharren mussten.
Dennoch hat Mohammads Familie zu der Zeit noch einen Funken Hoffnung: Hunderte Schiffbrüchige gelten anfangs noch als vermisst. Und Dutzende lagen zunächst noch nicht identifiziert in den Krankenhäusern. Doch Mohammad ist nicht unter ihnen. „Meine Schwägerin, die in Deutschland lebt, fuhr nach Griechenland, um eine DNA-Probe abzugeben. Sie war negativ.“ Mohammad war nicht unter den Geretteten – und auch nicht unter den Toten.
Viele Leichen sind nie gefunden worden. Ayat blickt nachdenklich und sagt, ihre Gefühle seien schwer zu beschreiben. Es sei sehr schwierig, mit dem Begriff „vermisst“ zu leben, ohne Gewissheit, was geschehen sei. Ohne zu wissen, wo Mohammad ist. Ob er Angst hatte, ob er Durst hatte. In Ayats Schlafzimmer, neben dem Doppelbett mit dem pinken Bettlaken, stehen im Wandschrank noch Mohammads Klamotten: weiße Hemde, bunte Pullover, gebügelt und anziehbereit. Ayat bewahrt sie immer noch für ihn auf. Falls er doch zurückkommt.
Mohammads Vater Mustafa, ein 61-jähriger Mann im beigefarbenen Gewand, ist hingegen wütend. Auf die Schleuser, für die Menschen wie Mohammad bloß laufende Geldbörsen seien, auf die Behörden, die seiner Meinung nach nicht genug getan hätten, um die Menschen zu retten.
Draußen ist der Ruf des Muezzin dem Brummen der Autos gewichen, in den Straßen, die mit Staub und Müll übersät sind, zwischen den weißen und grauen Häusern, an deren Wände jemand Graffitis gesprüht hat. In der sanft dekorierten Wohnung mit den rosaroten Vorhängen und den hellblauen Fliesen sitzen Mohammads Ehefrau und Vater nebeneinander – und verzweifeln. Zwischen ihnen hockt der vierjährige Elyan und schaut sich alte, glückliche Familienbilder auf dem Handy an.
Immer mehr syrische Geflüchtete in Jordanien erwägen offenbar eine Weiterflucht. Genaue Zahlen dazu sind schwer zu finden. Das UNHCR und der Norwegische Flüchtlingsrat (NCR) bestätigen aber, dass der Trend stärker wird. „Wir haben eine Zunahme an Flüchtlingen, von denen wir wissen, dass sie nach Europa oder in die Golfstaaten weitergezogen sind“, sagt Roland Schönbauer, UNHCR-Sprecher in Jordanien. Ein genaues Bild sei schwer zu bekommen, in diesem Jahr hätten jedoch bereits 5.000 Geflüchtete, syrische und nichtsyrische, Jordanien verlassen. Unklar ist, wie viele davon nach Europa gegangen sind. Beim Unfall von Pylos seien mehr als ein Dutzend aus Jordanien an Bord gewesen. Die Geflüchteten selbst sagten, dass sich der Trend seit 2019 verstärkt hätte.
Ähnliches berichtet der NRC. Man habe sogenannte irreguläre Bewegungen von Geflüchteten bemerkt, die Jordanien verließen, obwohl sie als solche hier Schutz genossen. Meistens geschehe dies in Situationen, „in denen die Menschen spüren, dass der Weg zu dauerhaften Lösungen unerreichbar ist“, so die Landesdirektorin für Jordanien, Amy Schmidt. Europa sei wegen der wirtschaftlichen Perspektiven ein Traumziel vieler Menschen – und gleichzeitig gehe die Schere zwischen Lebenskosten und vorhandenen Mitteln für viele Geflüchtete in Jordanien immer weiter auf, sagt Schönbauer. Und die Plätze in Umsiedlungsprogrammen seien begrenzt. Davon bräuchte man „etwa zehnmal mehr“.
Etwa 15 Kilometer entfernt, in der jordanischen Stadt Irbid, überlegen sich derweil Suha Maklouf und Amin al-Jaber, syrische Geflüchtete aus der Grenzstadt Dar’a, ob sie es nicht doch wagen sollten: die Flucht nach Europa, mit Schleppern über das Meer oder auf dem Landweg. Gefährlich sei das, das wissen sie. Sie wissen, dass viele nicht zurückkehren, die aufbrechen. Legale Wege hätten sie jedoch schon ausgeschöpft, sagen beide, bislang habe nichts geklappt.
Die Eheleute sitzen im Halbdunkel ihres Wohnzimmers. In den letzten vier Monaten konnten sie sich den Strom nicht mehr leisten. Suha, eine 32-Jährige in Jeans und mit blondgesträhnten Haaren, zeigt Rechnungen auf ihrem Smartphone. Sie summieren sich auf etwa 200 Dinar, etwa 260 Hundert Euro, hinzu kämen Mahngebühren und eine ältere, umstrittene Rechnung.
Durch die offene Tür der Dreizimmerwohnung rennt ein rotweißes Katzenbaby ins Zimmer, ein junges Mädchen läuft ihm hinterher. Ein dunkelhaariger Junge mit Schultasche auf den Schultern sagt kurz „Hallo“, läuft dann wieder weg, nach draußen auf den Hof, auf dem sich neben den Bäumen auch Sofas und Möbel befinden. Auf der Straße scheint die Sonne, noch ist es warm. Auf der anderen Straßenseite liegt Müll verstreut herum.
Seit anderthalb Monaten, seit die Familie ohne Strom auskommen muss, müssen die Kinder ihre Hausaufgaben vor Einbruch der Dunkelheit oder draußen erledigen, unter dem Licht der Straßenlampen. Der Kühlschrank sei ebenfalls nutzlos, sagt Suha. „Wir versuchen Nahrungsmittel zu essen, für die kein Kühlschrank erforderlich ist.“ Um die Smartphones aufzuladen, gingen sie zu den Nachbarn. Diese versuchten zu helfen, sie hätten ihnen kleine Generatoren geschenkt.
Doch der Familie ist es unangenehm, immer wieder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vor fünf Monaten arbeitete Amin, junger Mann mit schwarzem Bart, Baseballcap und T-Shirt, noch als Tischler in einem Geschäft. Doch dann, so erzählt er, lief die Arbeit nicht mehr so gut, der Manager konnte die Gehälter nicht mehr zahlen und Amin musste gehen. Versuche, einen neuen Job zu finden, seien bislang fehlgeschlagen. Jetzt repariert er noch gelegentlich Möbel für die Nachbarn. Genug, um die vierköpfige Familie zu ernähren, ist das aber nicht. Hilfeleistungen für Geflüchtete bekämen sie ebenso wenig, da Amin arbeitsfähig sei und bis vor Kurzem noch gearbeitet habe. Sie haben also einen Kredit aufgenommen, 400 Dinar, etwa 500 Euro, den sie nicht zurückzahlen könnten, sagt Suha und zeigt die Bescheinigung. Das kann rechtliche Probleme geben. Die Miete konnten sie ebenfalls seit Monaten nicht mehr begleichen.
Jordanien gilt, was die Aufnahme von Flüchtlingen angeht, eigentlich als positives Beispiel in der Region. Doch zuletzt wurden die Leistungen seitens des Welternährungsprogramms (WFP) gekürzt, gleichzeitig sind Preise und Arbeitslosigkeit nach der Coronapandemie gestiegen. Geflüchtete, die vor dem Sommer 32 Dollar pro Monat erhalten haben, um Nahrungsmittel zu kaufen, bekommen jetzt noch 21 Dollar. Die Ursache sei ein nachlassendes Spendenaufkommen, sagt das WFP. Und viele sind besorgt, dass die jüngsten Krisen in Gaza und der andauernde Krieg in der Ukraine die Spenden noch weiter schwinden lassen könnten.
In anderen Nachbarländern ist die Lage noch verzweifelter. Im Libanon könnten laut einer Umfrage des UNHCR etwa neun von zehn Flüchtlingsfamilien ohne Hilfeleistungen oder Darlehen nicht überleben. In der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan angekündigt, eine Million Syrer*innen nach Nordwestsyrien zu schicken, obwohl es dort keine stabile Regierung gibt. Und so verwundert es nicht, dass Geflüchtete versuchen, auf Schlepperrouten nach Europa zu gelangen.
Suha und Amin kamen so wie Mohammad und Ayat 2013 nach Jordanien. Bereits verheiratet, sie eine sunnitische Muslimin, er ein Druse. In Syrien war dies ein Problem, und zwar kein kleines. „Bis heute reden meine Eltern nicht mehr mit mir“, sagt sie. Eine Liebe, die nicht nur der Familie missfiel. Mitglieder islamistischer Terrorgruppen betrachteten die damalige Studentin als Sünderin, bedrohten das Paar. Doch auch in Jordanien ist die Lage nicht leicht. „Sogar die Kinder“ kriegten das mit, sagt das Paar mit einem bitteren Lächeln. Sie würden dafür gehänselt, belästigt. „Es gibt viele Probleme hier für uns“, sagen sie.
Suha Maklouf und Amin al-Jaber, syrische Geflüchtete in Jordanien
Und so denken Suha und Amin darüber nach, weiterzuziehen. „Wir versuchen unser Bestes, um einen legalen Weg zu finden“, sagt Suha. Noch warteten sie auf eine Antwort für eine Umsiedlung, sie hätten Anfragen an den UNHCR und andere Institutionen geschickt. „Wenn wir aber keinen finden, denken wir darüber nach, mit den Schleppern zu gehen. Wir kennen die Risiken, aber es gibt keinen anderen Weg“, sagt sie resigniert.
Derzeit steigt wieder die Zahl der Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, und so auch die Zahl der Asylanträge in Deutschland. Die meisten Bewerber*innen kommen laut dem Bundesamt für Migration ursprünglich aus Syrien, das sind etwa 83.000 von insgesamt über 260.000 Erstanträgen.
Die Debatte über irreguläre Migration wird in ganz Europa zunehmend aufgeheizt geführt. Italiens Rechtsregierung will Aufnahmelager in Albanien errichten. In Deutschland würde die an der Regierung beteiligte FDP gerne Asylverfahren in Drittstaaten diskutieren, auf der Oppositionsbank ist die CDU ebenfalls dafür.
Manche Expert*innen schlagen vor, Abkommen mit Gastländern zu schließen, die die heimische Bevölkerung sowie Geflüchtete unterstützen und diese langfristig integrieren – wie den 2016 geschlossenen Deal zwischen der EU und Jordanien. Andere Experten empfehlen einfachere Wege zu legalen Umsiedlungen, sogenannte Resettlement-Programme, und zu Arbeitserlaubnissen in Ländern, die Fachkräfte dringend benötigen.
In der Zwischenzeit sitzt Ayat auf dem blauen, goldverzierten Sofa im nordjordanischen Ar-Ramtha und seufzt, wenn sie an ihre Lage denkt. Sie hofft immer noch, dass Mohammad irgendwo da draußen ist, am Leben. Dass die Chancen derweil gen null gehen, will sie nicht wahrhaben. Fast jeden Tag schickt sie ihm Chatnachrichten, diesem lächelnden jungen Mann, von dem im Augenblick nur die Bilder bleiben. Sie hört alte Sprachnachrichten ab, sendet ihm Fotos ihrer gemeinsamen Kinder. Diese wissen nichts von dem Unfall. Sie denken, dass der Vater gerade im Ausland ist. Und dass er irgendwann zurückkehrt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten