Migration nach Deutschland: Flucht ohne Lebensgefahr

Immer mehr Geflüchtete kommen via Belarus nach Deutschland. Die Bundespolizei reagiert mit verstärkten Kontrollen. Für die Menschen auf der Flucht ist diese Route ein Segen.

Männer warten an der deutsch-polnischen Grenze

Im März stellte die Bundespolizei 412 Menschen an der deutsch-polnischen Grenze fest, im April waren es 670 und im Mai rund 800 Foto: Patrick Pleul/dpa

BERLIN taz | Die Behörden sprechen von „hybrider Kriegsführung“, wenn Migranten „gezielt“ via Belarus und Russland in die EU „geschleust“ werden. Im März stellte die Bundespolizei 412 Menschen an der deutsch-polnischen Grenze fest, die über diesen Weg nach Brandenburg kamen. Im April waren es 670 und im Mai rund 800 Menschen.

Nach Angaben der Bundespolizei stammen die meisten dieser Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan, aber auch Somalia, Jemen, Eritrea und der Irak würden als Herkunftsländer eine Rolle spielen.

Einer, den das betrifft, ist Yohannes Drar (Name geändert) aus Eritrea. Für ihn war der Weg über Belarus ein Sechser im Lotto, wie er sagt, sie ersparte ihm den leidvollen Weg über Libyen und das Mittelmeer nach Europa.

Als Drar das erzählt, schauen seine Landsleute, die diese Odyssee hinter sich haben, neidvoll auf ihn. Viele wurden auf der Flucht gekidnappt und gefoltert, damit die Kidnapper von ihren Verwandten Geld erpressen konnten. Sie wurden in libyschen Gefängnissen inhaftiert und haben auf dem Mittelmeer Menschen neben sich sterben sehen. Drars Flucht hingegen hat nicht ein bis zwei Jahre gedauert, wie ihre eigene, sondern nur wenige Monate.

Flucht ohne Schleuser

Eritrea gilt als eine der schlimmsten Diktaturen weltweit und wird auch das „Nordkorea Afrikas“ genannt. Die Menschen fliehen vor einem Militär- und Zwangsarbeitsdienst, der mit der Volljährigkeit oder auch eher beginnt, für Frauen mit der ersten Schwangerschaft endet, für Männer mit der Gebrechlichkeit.

Laut den vereinten Nationen erfüllt dieser Dienst alle Merkmale von Sklaverei – mit Ausnahme des Verkaufs der Sklaven auf dem freien Markt. Eritreische Sklavensoldaten wurden auch im äthiopischen Bürgerkrieg eingesetzt, vor allem an Frontabschnitten, wo die Sterberate besonders hoch ist. Fast alle Eritreer erhalten in Deutschland daher einen Schutzstatus.

Die Kontrollen der Bundespolizei entlang der deutsch-polnischen Grenze werden von den Behörden als Maßnahme gegen Schleuserkriminalität begründet. Dass Flucht nicht immer das Ergebnis von Schleusung ist, zeigt aber eine offizielle Statistik aus Bayern: Dort wurden im vergangenen Jahr rund 3.000 Fälle unerlaubter Einreise festgestellt, aber nur 191 Schleuserfälle.

Auch Drar erzählt eine andere Geschichte. Einen Schleuser habe er nicht gebraucht, sagt er. Ihm reichte eine Fahrkarte, um von Polen nach Deutschland zu kommen.

Blackbox Belarus

Schleuser, dieses Wort muss die taz Drar erst einmal erklären. Das seien Menschen, die Flüchtlinge gegen Geld von A nach B bringen, lautet die Erklärung auf Englisch, die Drar versteht. Er selbst spricht nicht von „Schleusern“, sondern von „Helfern“. Und: Ja, solche „Helfer“ habe er gehabt auf dem afrikanischen Teil seiner Fluchtroute.

Er brauchte Helfer, die ihm aus Eritrea hinaus in den Sudan halfen. Und er brauchte im Sudan „Helfer für Papiere“. Damit meint er einen gefälschten Pass, ein Flugticket und Visa. Seit er im Flugzeug vom Sudan nach Dubai saß, dem Zwischenhalt auf seinem Weiterflug nach Minsk, sei er ohne bezahlte Helfer ausgekommen, sagt er.

In Belarus habe er zwei Wochen verbracht und sei dann über die Grenze nach Polen gekommen. Die zwei Wochen in Belarus seien „hart, sehr hart“ gewesen, „wegen der Behörden“. Was er damit meint, kann Drar auf Englisch nicht ausdrücken.

In Polen sei er ebenfalls zwei Wochen gewesen, so der 18jährige. Auch dort sei es hart gewesen, es gab Militärs in der Grenzregion, unwegsame Wälder, aber auch humanitäre Organisationen, die ihm Essen, Trinken und neue Schuhe gegeben hätten. Sein Cousin aus Brandenburg habe ihm dann Geld für Bustickets nach Berlin geschickt. Und zu seinem Cousin sollte seine Reise auch gehen. Eigentlich.

Die Hilfsbereitschaft ist groß

Doch an dem Donnerstagvormittag, an dem Drar in Berlin ankommt, arbeitet der Cousin. Der bittet darum am Telefon einen Landsmann aus Berlin, ihn vom Bus abzuholen. Die taz kann auch mit diesem Mann sprechen. „Selbstverständlich habe ich kein Geld von dem Neuankömmling genommen. Ich habe ihm sogar die S-Bahn-Karte gekauft“, sagt er. Diese humanitäre Hilfe für einen Menschen, der mit nichts nach Deutschland kommt, sei für ihn selbstverständlich.

Und er erzählt von einer Französin, die ihm am Hauptbahnhof in Paris nach seiner Ankunft geholfen habe. Ein Jahr Inhaftierung in einem libyschen Gefängnis hatte er da schon hinter sich, mehrere vergebliche und schließlich einen erfolgreichen Versuch, mit einem Boot über das Mittelmeer zu gelangen, und eine Bahnfahrt von Italien nach Frankreich.

Dort wartete er auf den Anschlusszug nach Deutschland. Sein Geld war da schon alle. „Sie hat mir eine Flasche Wasser, eine Flasche Milch, fünf Bananen und ein Brötchen gekauft“, erinnert er sich. „Sonst hätte ich nur das Wasser aus der Toilette trinken können.“ Fast drei Jahre ist das inzwischen her, aber er erinnert sich noch sehr gut daran.

Yohannes Drar, der Neuankömmling, wird bis zum Wochenende in seiner Wohnung bleiben, denn er hat nach der Flucht nur einen Wunsch: schlafen. Dann holt der Cousin ihn ab.

Viele müssen zurück nach Polen

Dass er wohl nicht bei ihm in Brandenburg bleiben kann, erfährt Drar von der taz. Der Grund: Er hat in Polen seine Fingerabdrücke hinterlegt. Das heißt, sehr wahrscheinlich muss er sein Asylverfahren in Polen absolvieren, Polnisch statt Deutsch lernen. Wie seine Bleibeperspektive ist, bleibt abzuwarten, denn eritreische Flüchtlinge sind eine neue Erfahrung für Deutschlands östlichen Nachbarn.

Dass es ein Land namens Belarus gibt, hat Drar vor seiner Flucht nicht einmal gewusst. Die politischen Verhältnisse dort kann er nicht bewerten. Aber den Gedanken, dass er auf Einladung des belarussischen Diktators Alexander Lukaschenko dorthin kam, um dessen „hybriden Krieg“ gegen Europa zu unterstützen, findet er so absurd, dass er ihn nicht einmal versteht.

Auch wenn es diesen vergleichsweise bequemen Weg für ihn nicht gegeben hätte, hätte er sich auf den Weg nach Europa gemacht, sagt er. Über Libyen und das Mittelmeer. Ob er dann heute noch leben würde, da ist er sich aber nicht so sicher.

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