Migration in Nordafrika: Richtungswechsel in der Sahara
Eine Staatenallianz in Nordafrika will die Migration nach Europa stoppen. Tausende sind nun auf der Sahararoute in Richtung Süden unterwegs.
Vor allem Familien und Frauen mit Kindern hatten die Nähe der internationalen Helfer gesucht, in der Hoffnung auf Schutz vor willkürlicher Verhaftung. 16.500 Flüchtlinge hat das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR nach eigenen Angaben in Tunesien registriert. Doch mangels eines Aslygesetzes ermöglichen auch die an sie ausgegebenen Identitätskarten keinen legalen Aufenthalt.
Nach den Räumungsaktionen wurden viele Bewohner:innen der Zeltlager, von denen die meisten aus Subsahara-Afrika kommen, in Bussen an die algerische oder libysche Grenze deportiert. Vergangenen Sommer waren nach einer ähnlichen Verhaftungswelle mehrere Dutzend Menschen in der Sahara verdurstet, nachdem sie zu Fuß in Richtung Libyen geschickt worden waren.
Nun sind erstmals aus Tunesien vertriebene Flüchtlinge und Migrant:innen in einem rund 3.000 Kilometer entfernten IOM-Aufnahmelager in der Stadt Agadez in Niger aufgetaucht. Agadez gilt als Drehkreuz der Migration in der Sahelregion. Von dort aus waren viele Westafrikaner:innen und Sudanes:innen nach Tunesien gestartet, um von der Küste bei Sfax auf die italienische Insel Lampedusa überzusetzen. Doch nun sind erstmals seit Jahren Geflüchtete auf der Sahararoute in Richtung Süden unterwegs.
Dies geht zurück auf einen kürzlich geschmiedeten Plan einer Allianz nordafrikanischer Staaten. Tunesiens Präsident Kaïs Saied hatte sich am 22. April mit seinem algerischen Amtskollegen Abdelmadschid Tebboune und dem Chef des libyschen Präsidialrates, Mohamed al-Menfi, geeinigt, die steigende Zahl der aus Agadez ankommenden Menschen durch Rücktransporte zu senken. Fast alle der rund 70.000 in Tunesien lebenden Geflüchteten sind über die beiden Nachbarländer eingereist. Nach mehreren Treffen Saieds mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni und ihrer Reise nach Libyen vergangene Woche vermuten viele Medien in der Region, dass auch Rom das Trio unterstützt.
Seit Mai übernimmt die algerische Polizei die Abgeschobenen an der Grenze von den tunesischen Kollegen und fährt sie quer durch Afrikas größten Flächenstaat an den „Point Zero“. Flüchtlingsorganisationen aus verschiedenen Ländern berichten von bis zu 250 Menschen, die dort täglich ausgesetzt werden. Nach einem 15 Kilometer langen Marsch erreichen sie ein IOM-Aufnahmelager in der nigrischen Stadt Assamaka und werden von dort weiter nach Agadez gebracht.
Bis zu 10.000 Menschen sollen laut IOM seit Jahresbeginn die unfreiwillige Reise gen Süden angetreten haben. Zwischen Algerien und Niger besteht ein Abkommen, das nigrischen Gastarbeiter:innen die Rückkehr aus Algerien erleichtern soll. Offenbar nimmt die nigrische Regierung derzeit aber auch andere Nationalitäten auf.
Migration nach Tunesien geht weiter
Währenddessen kommen weiter viele Menschen in Tunesien an. „So viele Neuankömmlinge kommen alleine in unserem Camp jeden Tag an“, berichtet Ibrahim Zekel, der aus Nigeria kommt, und seit sieben Monaten in einem Olivenhain nahe Sfax lebt. Der Ingenieur hofft auf einen Platz in einem Boot nach Lampedusa. Doch seit der Kooperation mit der EU lässt die tunesische Küstenwache den Menschenhändlern kaum noch eine Chance. Laut Küstenwache wurden seit Januar 21.545 Menschen aus 751 seeuntauglichen Booten gerettet.
Einige Mitreisende von Ibrahim Zekel sind in den letzten Tagen nach Libyen abgeschoben worden. Libysche Soldaten bringen die Festgenommenen an den südlichen Grenzübergang Tumu. Dann geht es auch dort 20 Kilometer durch ein Niemandsland zu einem IOM-Lager in Niger. Doch nach UN-Angaben haben seit Januar auch in umgekehrter Richtung 160.000 Menschen den Weg von Agadez nach Algerien oder Libyen gewählt, für 200 Euro pro Sitzplatz. Das Geschäft mit der Migration in der Sahara brummt – trotz der neuen Route nach Süden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen