Mick Jaggers Männlichkeit: Gut abgehangene Coolness
Narzisstischer Frontmann, androgynes Sexsymbol, genialer Songschreiber: Mick Jagger bleibt schwer lesbar – und einzigartig. Eine Würdigung.
I m Herbst 1963 besuchte David Bowie eine Little-Richard-Show. Als eine von vielen Vorbands spielten die Rolling Stones, unbekannte, dürre weiße Jungs, kaum älter als der damals 16-Jährige. Doch „in meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas so Rebellisches gesehen“, erinnerte sich Bowie später in einem Interview: „Lasst euch die Haare schneiden!“, habe ein Mann gerufen. „What – and look like you?!“, habe Mick verächtlich gekontert – und sowohl Bowie als auch den Rest des Publikums mit juveniler Coolness umgehauen.
Dass Coolness einst die Hauptingredienz des Rock ’n’ Roll war, ist fast in Vergessenheit geraten. Es geht inzwischen um (vermeintliche) Authentizität, darum, das Innere nach außen zu kehren. Aber Sir Mick Jagger, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, gab sich stets eher enigmatisch als authentisch – er bleibt schwer zu lesen.
Im Jahr 1967 traf der britische Fotograf Cecil Beaton, dessen glamouröse Porträts die Kunst seit den 20er Jahren bereicherten, auf die Rolling Stones. Und befand den Stones-Frontmann als „hässlich und hübsch, maskulin und feminin, sexy aber geschlechtslos gleichzeitig“. Dennoch, oder eher darum wurden Jagger stets Liebesaffären mit Frauen und Männern nachgesagt, vor allem Erstere seien angeblich oft am sexistischen Arschlochtum des Briten gescheitert.
Früh zog man neben Jaggers Gebaren, dem Schäkern mit allem, was nicht bei drei auf dem Baum ist, auch Texte als Beweis herbei und missverstand „Under my thumb“ dabei gern als misogynes Statement: „Under my thumb / the girl who once had me down / under my thumb / the girl who once pushed me around.“ Dabei beschreibt der Song nur trotzig die nächste Stufe des Liebeskummers – man will sich nicht mehr von der Ex „herumschubsen“ lassen.
Jagger besetzte eine klare Position
Herumschubsen ließ er sich nie gern. Mick Jagger besetzte in der etablierten Bandrollenkonstellation stets eine klare Position: Er war und ist ein Frontmann, dessen Narzissmus ihn für alle unwiderstehlich macht, die auf Narzissten stehen. Seine Anziehungskraft war also immer ambivalent, sowohl durch sein Verhalten als auch durch sein Äußeres.
Dass Jaggers Androgynität schockierend auf die Umwelt wirkte, ist heute schwer nachvollziehbar. Aber neben den Haaren reichten tatsächlich bereits seine vollen Lippen, um Sittenwächter:innen (und ihre verknallten Schützlinge) amtlich zu erregen: Wieso sieht ein Teenie-Superstar derartig „unmännlich“ aus?! In der damaligen Kritik am Erscheinungsbild Jaggers zeigt sich die gesamte Queer- und damit Menschenfeindlichkeit des letzten Jahrtausends.
Jagger, und nicht nur er, waren tatsächlich „rebellisch“: Zumindest um Genderkonventionen scherten sie sich wenig. Dass sie mit Groupies schliefen, sahen sie, ebenso wie die fast immer weiblichen Groupies, die die Nähe zu provokanten Stars genossen, als Ausdruck sexueller Freiheit. Das unterschied sie von den Konventionen ihrer Elterngenerationen, in der Sexualität in festen Bahnen stattfand, und sowohl die angeblich immergeilen Männer als auch die angeblich nie geilen Frauen dafür verurteilt wurden.
Ein höchst befriedigendes, konsensuelles Verhältnis
Die Autorin Pamela Des Barres, die ihr 60er-Jahre-Groupietum biografisch verarbeitete, beschrieb 1989 in „Light my fire“, wie sie als einstiger Beatles-Fan von ihren Freundinnen für ihre Jagger-Leidenschaft beschimpft wurde: „Sie glaubten, ich hätte Paul für dieses groteske, ekelhafte, wulstlippige Tier Mick Jagger verraten.“
Sie schreibt von Masturbationsfantasien zu Jaggers mit dem ihm eigenen Timbre gestöhnten Zeilen aus „I’m a King Bee“: „Yes I can make honey baby / let me come inside.“ Beim Stones-Konzert in Hollywood 1965 stellte die damals 17-Jährige dem Sänger nach, er verjagte sie jedoch freundlich von seinem Fenster. Später, mit 21 Jahren, hatten beide ein angeblich höchst befriedigendes, konsensuelles Verhältnis.
Aber Machtstrukturen und geschlechterbezogene Zuschreibungen wurden in den 60ern und 70ern kaum analysiert oder kritisiert, Missbrauch gab es ebenso wie toxisches Verhalten. Die Journalistin Lesley-Ann Jones versuchte 2022 in ihrem Buch „The Stone Age“, sich feministisch durch die übergeschlechtliche Faszination für die Band zu arbeiten.
Ihre Vorwürfe leitet sie jedoch im 50er-Jahre-Groschenroman-Ton ein: „Sie schenkte dem Stone vier Kinder und zweiundzwanzig Jahre ihres Lebens“, heißt es über Jaggers Ex-Frau Jerry Hall. Dass Frauen Männern „Kinder schenken“ oder Jahre, ist für Jones genauso Tatsache wie der „ungezügelt lüsterne Lebensstil“ des Musikers, eines „Opfers seiner eigenen Unersättlichkeit“. Die falsche und ärgerliche Mär vom unersättlichen männlichen Raubtier, dem so eine – im Gegensatz zur passiven, romantischen Frau – aktive, aggressive Sexualität zugestanden wird, wabert durch die ganze Erzählung.
Ein funktionaler Songschreiber, der Leidenschaft zeigt
Cecil Beaton hat vermutlich recht: Es steckt beides in Jagger, der als ehemaliger Wirtschaftsstudent die Stones-Finanzen verantwortete, und mit seinen Ex-Frauen Grabenkämpfe über Unterhaltszahlungen ausfocht. Er ist also ein Pfennigfuchser, der großzügig sein kann. Ein schnell entflammbarer Liebhaber, der schnell wieder abkühlt.
Ein funktionaler Songschreiber (richtig Interessantes haben die Stones in den letzten 40 Jahren nicht hervorgebracht), der live verlässlich Leidenschaft zeigt. Und ein sensibler, genderfluider Performer, dessen Pragmatismus dennoch so groß ist wie seine fehlende Empathie gegenüber Diskriminierung, die ihn nicht betrifft: Nach Vorwürfen wegen rassistischer Kolonialbilder in „Brown Sugar“ nahm Jagger den Song zwar aus dem Set, äußerte sich aber nie detailliert zum Thema, sondern schob es auf die Ignoranz seines jugendlichen Songschreiber-Ichs.
Jugendlich ist Mick Jagger nicht mehr, cool vielleicht schon noch. Wenn auch nicht mehr so wie 1970 im Film „Gimme Shelter“, als er einem Reporter auf die Frage „Are you satisfied?“ antwortete: „Financially – dissatisfied. Sexually – satisfied. Philosophically- trying“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit