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Merz' ReformherbstSozialstaat zu teuer? Von wegen!

Friedrich Merz sagt, der Sozialstaat sei nicht mehr finanzierbar. Die SPD kritisiert das. Und auch der Volkswirt Sebastian Dullien widerspricht.

Will den ­Sozialstaat im Herbst kürzen: Bundeskanzler Friedrich Merz Foto: Michael Kappeler/dpa

Berlin taz | Man könnte es als Folklore abtun. Beim Landesparteitag der niedersächsischen CDU am Samstag sprach auch der Bundesvorsitzende Friedrich Merz und forderte eine harte Reformdebatte. „Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“, so Merz. Die Seele vieler Par­tei­freun­d*in­nen mag er damit gestreichelt haben, beim Koalitionspartner und den Wohlfahrtsverbänden kamen die Ankündigungen weniger gut an.

SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt wertet Merz’ Ankündigungen auch als Kampfansage an die SPD und sieht einen Widerspruch zur kürzlich beschlossenen Ausweitung der Mütterrente. Im Gespräch mit der taz widerspricht die Fachfrau für Arbeit und Soziales dem Kanzler: „Unser Sozialstaat ist finanzierbar, die Frage ist vor allem, wie eine gerechte Finanzierung aussieht.“ Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes Joachim Rock bezichtigt Merz gar der Lüge. „Das ist eine grob irreführende und falsche Aussage von Herrn Merz“, so Rock zur taz. „Wir haben keine überdurchschnittliche Kostensteigerung im Sozial­staat.“

Janis Ehling, Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, wittert einen „konzertieren Angriff der Arbeitgeberlobby und der CDU auf den Sozialstaat“. Er fordert eine fairere Lastenverteilung, um diesen zu finanzieren. Etwa die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Ähnlich sieht es Rock vom Paritätischen: „Einkommen aus Vermietung oder Kapitalanlagen spielen bei der Finanzierung der Sozialversicherung keine Rolle.“ Wären sie einbezogen, könnten Beiträge sinken und die Leistung steigen.

SPD-Politikerin Schmidt findet es ebenfalls „angebracht, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch die Frage zu stellen, wer mehr zur Finanzierung beitragen kann“. Damit knüpft sie an die von SPD-Co-Chef und Vizekanzler Lars Klingbeil angestoßene Debatte um höhere Steuern für Vermögende an. Die Union lehnt solche Steuern jedoch ab und hat dies im Koalitionsvertrag festgeschrieben.

Schmidt will kein Talkshowniveau

Dort hat man sich aber auf Reformen der Sozialsysteme beziehungsweise auf die Einsetzung entsprechender Kommissionen geeinigt. Die erste, zur Reform des Sozialstaats mit Vertretern aus Bund, Ländern und Kommunen, soll bis Ende 2025 Empfehlungen vorlegen. Der Schwerpunkt liegt laut Arbeitsauftrag auf Bürokratieabbau.

Das betont auch SPD-Fraktionsvize Schmidt. Aus Sicht ihrer Partei sei es vor allem notwendig, dass Sozialleistungen einfacher zugänglich, effizienter und bürgernäher werden. „Wir können auch über Pauschalierungen reden, da wo sie Menschen Vorteile bringen.“ Was die SPD aber nicht hinnehmen werde, „sind plumpe Leistungskürzungen und Privatisierungen. Das soziale Schutzniveau darf nicht sinken.“ Schmidt sieht durchaus Schnittmengen mit der Union, wenn diese endlich anfange, mit der gebotenen Ernsthaftigkeit Vorschläge auf den Tisch zu legen, anstatt nur auf Talkshow­niveau Kürzungen als Lösung der Haushaltsprobleme zu präsentieren.

Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales kostet der Sozialstaat jährlich über 1,3 Billionen Euro, die sich aus Abgaben und Steuern speisen. Allein aus dem Bundeshaushalt flossen im vergangenen Jahr gut 200 Milliarden Euro, damit fast die Hälfte des Etats, in die sozialen Sicherungssysteme sowie Leistungen für Jugend und Familien.

Der Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makro­ökonomie und Konjunkturforschung (IMK) Sebastian Dullien rät dennoch zur Gelassenheit. „Wir geben in Deutschland relativ zum Bruttoinlandsprodukt für Soziales nicht mehr aus als andere Industrieländer“, sagt Dullien der taz. Laut Analysen des IMK beträgt der Anteil der staatlichen Sozialausgaben am BIP gut 27 Prozent, damit liegt Deutschland unter den 18 reichen OECD-Ländern im Mittelfeld. Man müsse allerdings fragen, ob das Geld überall gut eingesetzt sei, meint Dullien. Und sieht im Gesundheitswesen den größten Reformbedarf. „Hier geben wir vergleichsweise mehr Geld aus als Nachbarländer, vor allem für Medikamente, Krankenhäuser und die Honorierung der Ärzt*innen.“

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