Merkel hofft auf Abkommen mit Libyen: Menschenunwürdige Verhältnisse
Um die Flüchtlingsabwehr zu verstärken, setzt die Kanzlerin auf die neue Einheitsregierung in Tripolis. Doch die ist ziemlich machtlos.
Nach Schätzung der italienischen Regierung warten derzeit mindestens 200.000 Flüchtlinge und Migranten an der 2.200 Kilometer langen Küste Libyens auf die Überfahrt nach Lampedusa oder Sizilien. Der Ölstaat gilt unter den Arbeitssuchenden Westafrikas und der Nachbarländer als lukrativer Arbeitsmarkt.
Doch aufgrund der Expansion des „Islamischen Staates“ (IS) und der Willkür der Milizen versucht die Mehrheit der Nigerianer oder Eriträer, möglichst schnell nach Europa überzusetzen. Aber dieselben Milizen, vor denen die Menschen fliehen, sind mittlerweile in den Menschenschmuggel verstrickt.
„Seit dem Zusammenbruch der Ölförderung und den oft über Monate ausbleibenden Lohnzahlungen der Zentralbank ist Migration zu einem Wirtschaftszweig geworden“, sagt Aktivist Zacharias aus Tripolis. Zusammen mit libyschen Mitstreitern versucht er mit Aufklärungskampagnen auf die menschenunwürdigen Verhältnisse in den Internierungslagern hinzuweisen.
Immer wieder werden Schwarzafrikaner von Milizionären aus Baustellen oder ihren Unterkünften abgeführt und über Monate festgehalten. Da die meisten Botschaften Libyen verlassen haben, ist eine Rückführung in die Heimatländer unmöglich.
Mehr als 2.000 Menschen kommen täglich aus der Sahara in die Küstenstädte Misrata, Zuwara oder Tripolis. Mit den Festnahmen versuchen sich die bewaffneten Gruppen in der Bevölkerung und gegenüber der internationalen Gemeinschaft als offizieller Ordnungsfaktor zu positionieren.
„Dabei fehlt es an genügend Platz und Erfahrung, bis zu 2.000 Menschen in den ehemaligen Gefängnissen des Gaddafi-Regimes unterzubringen“, gibt ein Wärter in Karrarim zu. Am westlichen Stadtrand von Misrata müssen rund 1.000 Insassen mit vier Toiletten und zwei Waschmöglichkeiten auskommen.
Aggressive Wärter
Zusammen mit einem Dutzend ehemaliger Revolutionäre, die nach eigenen Angaben mit 150 Euro Sold im Monat auskommen müssen, versucht der 26-jährige Khalil, einen Aufstand zu verhindern. Die Gefangenen berichten von überforderten, aggressiven Wärtern und Schlägen. Bis auf liberale Aktivisten und ehemalige Gaddafi-Anhänger ist noch kein Milizionär seit 2011 vor einem ordentlichen Gericht für Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden.
In Zuwara an der tunesischen Grenze, von wo wegen der günstigen Strömung die meisten Boote nach Lampedusa ablegen, hatte im März eine Bürgerwehr die meisten Schmuggler eingesperrt. „Von ihren Verwandten wurden wir massiv bedroht und dem IS, der im benachbarten Sabrata vom Menschenschmuggel lebt, haben wir eine Umsatzsteigerung beschert“, klagt Ayoob Sufyan, Mitbegründer der „maskierten Männer“.
Premier Fajes al-Sarradsch wirbt derzeit um eine Kooperation mit den diversen Milizen in Tripolis. Den Preis für die Sicherung der machtlosen Regierung, die sich auf einer Marinebasis verschanzt, haben die meisten Kommandeure schon genannt: Keine Einmischung in deren mafiaartig kontrollierte Territorien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin