Mental Health bei Olympia: Auch die Stärksten haben Schwächen
Mentale Gesundheit im Leistungssport ist seit Olympia 2021 kein Tabu mehr. Auch dank Stars wie Simone Biles und Naomi Osaka, die in Paris dabei sind.
Es ist wieder viel von Marie-José Pérec die Rede in diesen Tagen vor der Eröffnung der Olympischen Spiele von Paris. Die dreifache Olympiasiegerin aus Frankreich gilt als eine der Kandidatinnen für das Entflammen des Olympischen Feuers, jenes archaischen Rituals zu Beginn der Spiele. Doch nicht nur darüber wird gesprochen im Land des Olympiagastgebers.
Eine frische Fernseh-Dokumentaion wirft noch einmal einen Blick auf die spektakuläre Karriere der Sprinterin, die zu ihren besten Zeiten zwischen 1992 und 1996 als schier unschlagbar über 400 und 200 Meter galt. Ihre nicht minder spektakuläre Flucht von den Olympischen Spielen 2000 in Sydney ist natürlich auch ein Thema der Doku.
Alle Welt wartete damals auf den Showdown der besten 400-Meter-Läuferinnen jenes Jahres, der Australierin Kathy Freeman und Marie-José Pérec. Doch Pérec reiste noch vor ihrem ersten Vorlauf ab. Mehrere Jahre war sie regelrecht auf der Flucht und ließ ihre Fans in Frankreich, wo sie vergöttert wurde wie kaum eine Sportlerin zuvor, im Unklaren über ihre Motive.
In der Doku sagt sie: „Damals hat man nicht offen darüber sprechen können. Es war Naomi Osaka, die den Mut dazu hatte und ich bin ihr dankbar dafür.“ Es geht um die mentale Gesundheit von Sportlerinnen und Sportlern, den Druck, unter dem gerade die so sehr leiden können, von denen am meisten erwartet wird.
Abreise bei den French Open 2021
Naomi Osaka, die US-amerikanisch-japanische Tennisspielerin, hatte 2021 bei den French Open zum ersten Mal darüber gesprochen, dass sie mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Sie hatte darum gebeten, den verpflichtenden Pressekonferenzen nach den Spielen fernbleiben zu dürfen. Nachdem ihr das verweigert worden war, reiste die damals beste Tennisspielerin der Welt, die zu Jahresbeginn 2021 die Australian Open gewonnen hatte, ab.
Als sie später im Jahr bei den Spielen von Tokio als Hoffnungsträgerin einer ganzen Nation das Olympische Feuer bei der Eröffnungsfeier entflammte, war sie eine der am besten verdienenden Sportlerinnen der Welt, zierte das Cover von Modemagazinen und war Protagonistin eine Netflix-Serie über ihre Karriere.
Die Favoritin auf Gold verlor dann im Achtelfinale des olympischen Tennisturniers klar mit 1:6, 4:6 gegen die Tschechin Markéta Vondroušová. Osaka schien unter all dem Druck, den auch sie selbst sich gemacht hatte, zusammengebrochen zu sein. Das Thema mentale Gesundheit hatte Olympia erreicht.
Bei denselben Spielen brach Simone Biles, die vielleicht beste Turnerin aller Zeiten, die bei den Spielen zuvor in Rio de Janeiro vier Goldmedaillen gewonnen hatte, den Mannschaftswettbewerb nach ihrem Sprung ab. Statt der angekündigten zweieinhalb Schrauben hatte sie nur eineinhalb gezeigt und bei der Landung einen weiten Ausfallschritt gemacht.
Turnwelt unter Schock
Alle konnten sehen, dass da etwas nicht stimmte mit der Athletin, die in der Qualifikation an allen Geräten noch überzeugt hatte. Später erklärte Biles, dass sie einfach nicht mehr konnte und sich aus mentalen Gründen aus dem Wettbewerb zurückziehen werde. Nicht nur die Turnwelt stand unter Schock.
Naomi Osaka und Simone Biles sind in Paris wieder mit dabei. Während Osaka, nach der Geburt ihrer Tochter, erst wieder anfängt, sich größere Ziele im Tennissport zu setzen, ist Biles nicht nur in Frankreich omnipräsent. Sie ist eines der Gesichter, mit der die Spiele in den Städten für sich werben. Sie hat die Rolle als möglicher Superstar der Spiele angenommen, auch weil sie beweisen möchte, dass ein selbstbestimmter Leistungssport für Turnerinnen möglich ist.
Diese Mission verfolgt sie seit 2018. Da gehörte sie zu den Turnerinnen, die andauernden Missbrauch im Turncamp des US-Verbands öffentlich machten. Ihren Kampf gegen die brutalen Strukturen im Verband, der sie dazu zwingen wollte, in ebenjenem Turncamp weiter zu trainieren, in dem sie und etliche andere Athletinnen missbraucht worden waren, setzte sie nach den Spielen 2021 fort.
In einer Anhörung vor dem US-Senat beschuldigte sie unter anderen das FBI, den Anzeigen der Sportlerinnen keinen Glauben geschenkt und es so ermöglicht zu haben, dass noch weitere Turnerinnen dem Missbrauch durch Betreuer zum Opfer gefallen sind. Gleichzeitig war sie das Gesicht einer Turnshow, die unter dem Namen „Gold over America“ durch das Land getourt ist und befreit von den verbrecherischen Verbandsstrukturen Turnen als Profisport inszeniert hat.
Ein Gegenentwurf zu den finsteren Zeiten
Die Zeiten, in denen sich ein Trainer noch dafür feiern lassen konnte, dass er eine verletzte Turnerin ans Gerät ließ, um sie daraufhin zur Siegerehrung zu tragen, sollen endgültig der Vergangenheit angehören. Die Bilder der Olympischen Spiele von 1996 in Atlanta, die zeigen, wie Trainer Béla Károlyi die damals 18-jährige Kerry Strugg zum Podest trug, sind unvergessen. Er wurde gefeiert für den lang ersehnten Sieg der US-Staffel über das eigentlich überlegene Russland.
Wie der Erfolg zustande gekommen ist, hat damals kaum einer in Frage gestellt. Die Turnschmiede in Texas, in der so viele Sportlerinnen nicht nur trainingsmethodisch gequält wurden und in der Biles nicht länger arbeiten wollte, trug den Namen des Schinders.
Biles repräsentiert wie keine andere den Gegenentwurf zu diesen finsteren Zeiten des Turnsports. Dass ihr Team, das bei den Spielen von Tokio ohne sie die Goldmedaille im Teamwettbewerb verpasst hat, zu ihr stand, nachdem sie den Wettkampf abgebrochen hatte, ihr den Rücken gestärkt hat, sodass sie am Ende der Wettbewerbe sogar wieder in der Lage war, im Gerätefinale am Schwebebalken anzutreten, ist gewiss auch ein Zeichen des Wandels.
Auch die Stärksten dürfen Schwächen zeigen. Marie-José Pérec wäre ein jahrelanges Versteckspiel vor der Öffentlichkeit wohl erspart geblieben, wäre das zu ihrer Zeit schon so gewesen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht