Menschenrechtlerin zu Protest in Serbien: „Sie haben ihre Angst verloren“
In Serbien halten die Proteste an. Präsident Vučić ist dagegen machtlos. Aber er bekommt überraschende Unterstützung, erklärt Sonja Biserko.
taz: Sonja Biserko, in Serbien gibt es wieder Massendemonstrationen. Erwacht die serbische Opposition wieder?
Sonja Biserko: Ein Teil der Gesellschaft ist erschrocken über die schrecklichen Verbrechen unter Kindern und Jugendlichen und die Verantwortung der Medien und der Gesellschaft dafür. Die Demonstrationen waren sehr friedlich, eine neue Generation ist da aufgetreten. Man versuchte sie zwar zu marginalisieren und unter Druck zu setzen, aber die Demonstrationen werden weitergehen. Die wichtigste Botschaft dieser Bewegung lautet dabei: Die Leute haben ihre Angst verloren. Präsident Aleksandar Vučić ist nicht in der Lage, sie zu kontrollieren. Trotz der Beschimpfungen, sie seien Kriminelle und Hooligans. Den Menschen ist bewusst, wie tief die Krise in der Gesellschaft verankert ist. Dabei hat die Bewegung vermieden, Probleme wie den Krieg in der Ukraine oder im Kosovo aufzugreifen.
Die ehemalige jugoslawische Diplomatin und Menschenrechtlerin ist seit 2004 Präsidentin des serbischen Helsinki-Komitees für Menschenrechte.
Die Vermutung, Vučić wolle mit den Unruhen im Kosovo die Demonstrationen in Belgrad stoppen, trifft also nicht so ganz den Kern?
Die Armee an der Grenze zum Kosovo aufmarschieren zu lassen, wurde ja seit Jahren immer wieder gemacht. Das ist nichts Neues. Für alle Beobachter ist aber klar, dass Vučić jetzt wieder versucht hat, den Konflikt im Kosovo anzuheizen.
Der Westen, allen voran die USA, waren bisher der wichtigste Verbündete des Kosovo. Warum zeigen jetzt vor allem die USA Sympathien für Vučić?
Es geht jetzt offenbar darum, den russischen Einfluss in der Region zurückzudrängen. Das hat Priorität. Die amerikanischen Botschafter aus der Region haben sich kürzlich in Tirana getroffen und haben das besprochen. Die Logik hinter dieser Politik basiert darauf, dass man glaubt, nicht mehr viel Zeit zu haben. Bis Ende des Jahres sollen die Konflikte in Europa und vor allem auf dem Balkan gelöst werden, denn die Konflikte anderswo werden mehr und mehr überdimensional. Es gibt ja weltweit große Herausforderungen.
Heißt: Serbien und Präsident Vučić sollen für den Westen gewonnen werden. Was bleibt dann von der bisher propagierten Politik übrig, Menschenrechte und Demokratie zu stärken?
Es gibt keine politischen Garantien für Menschenrechte mehr. Das heißt, der Druck auf das Kosovo und auf Ministerpräsident Albin Kurti wird steigen. In der serbischen Akademie der Wissenschaften wurde kürzlich die These vertreten, man müsse eine serbische Entität im Kosovo kreieren. Nur so ließen sich die Brüsseler Forderung für die Integration in die EU erfüllen.
Für Vučič bedeutet das, den Verbund serbischer Gemeinden mit aller Macht durchzusetzen. Kurti will das nicht, er hält an dem ursprünglichen europäischen Weg fest. Die serbischen Gemeinden haben weitgehende Selbstverwaltungsrechte im bestehenden Staat und zusätzlich zu den Sitzen der gewählten Vertreter 10 Sitze im Parlament des Landes (mit insgesamt 120 Sitzen; Anmerk. d. Red.).
Vučić versucht, die Serben des Kosovo an der Integration zu hindern. Die Serben sollten die staatlichen Institutionen verlassen und Wahlen boykottieren. Diese Politik war früher verpönt, aber jetzt erlauben die USA das.
Glauben die USA, Vučić wechselt wegen dieser Politik das Lager?
Ja, die Vereinigten Staaten und Deutschland wollen diese Politik durchsetzen, obwohl Aleksandar Vučić politisch und finanziell bankrott ist. Serbien steht beim Wirtschaftswachstum in der Region an letzter Stelle, trotz der billigen Energie aus Russland.
Aber die russische Seite ist auch aktiv, hat im Militär und den Geheimdiensten neben Serbien auch in Montenegro, Makedonien und Bosnien und Herzegowina Einfluss.
Die Russen können hier keinen Krieg entfachen. Sie können aber die Prozesse der Normalisierung und der Integration in die EU behindern. Die USA sind jetzt der wichtigste Player in Serbien. Sie wissen alles über die Politik des Landes. Aber sie ignorieren die zivilen Kräfte, obwohl sie wissen müssten, wie tief die Institutionen des Staates im Schmutz stecken.
Gibt der Westen gerade seine Werte auf?
Menschenrechte und demokratische Rechte spielen heute keine Rolle mehr, das hat keine Priorität, wichtig ist jetzt die Sicherheitspolitik, das strategische Interesse geht vor, die demokratischen Werte sind nicht mehr wichtig.
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