Menschen mit Behinderung: Vom Wahlrecht ausgeschlossen
Menschen mit Betreuung „in allen Angelegenheiten“ dürfen laut Bundeswahlgesetz nicht wählen. Wie willkürlich ist diese Regelung?
Thies Teegen hat sich bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein für konkrete Themen interessiert, nicht für die Talkshow-Performance der Politiker. „Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen sind wichtig“, sagt der 52-Jährige, der in den Segeberger Wohn- und Werkstätten arbeitet. Er sitzt als sogenannter Selbstvertreter im Landesvorstand der Lebenshilfe Schleswig-Holstein. „Menschen mit Behinderungen müssen rausgehen in die Gesellschaft.“ Bei der Landtagswahl habe er „die Sozialdemokraten gewählt“, erzählt er.
Teegen gehört zu den Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die zwar eine gesetzliche Betreuung haben, aber nur eine Betreuung in einigen, nicht in „allen Angelegenheiten“. Ein gesetzlicher Betreuer kann zum Beispiel für einen Klienten aufs Amt gehen, über ärztliche Behandlung oder den Wohnort entscheiden.
Menschen mit einer Betreuung nur in einigen Angelegenheiten dürfen wählen, auch bei der kommenden Bundestagswahl. Sie bekommen Wahlscheine zugeschickt und können dann in die Wahllokale gehen oder sich die Formulare für die Briefwahl zusenden lassen. Sie können ihre Kreuzchen machen, wo sie wollen – wenn nötig, mit Unterstützung.
Doch wer eine Betreuung „in allen Angelegenheiten“ hat, ist laut Gesetz vom Wahlrecht ausgeschlossen. Die Behindertenverbände laufen Sturm gegen diese Regelung – erst recht jetzt vor der Bundestagswahl.
Wer sich die Debatte genauer anschaut, gewinnt dabei einige Erkenntnisse über das, was man unter „Entscheidungsfähigkeit“ versteht, genauer gesagt über die willkürlichen Kriterien, nach denen darüber geurteilt wird.
Assistenzsysteme sind „kaum denkbar“
Ausgangspunkt ist der Paragraf 13 im Bundeswahlgesetz „Ausschluss vom Wahlrecht“. Danach ist ein Mensch, „für den zur Betreuung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“, vom Wahlrecht ausgeschlossen. Ausgeschlossen vom Wahlrecht sind auch Menschen, die sich wegen Straftaten in der forensischen Psychiatrie befinden. 85.000 Menschen dürfen wegen des Paragrafen 13 in Deutschland nicht wählen.
Behindertenverbände protestierten schon zur Bundestagswahl 2013 gegen den Ausschluss. Das Bundessozialministerium gab eine Studie in Auftrag. In dem 300-Seiten-Papier kamen die Rechtswissenschaftler zu dem Schluss, dass der Paragraf 13 verfassungsgemäß sei. Denn bei den Betroffenen finde im betreuungsgerichtlichen Verfahren eine sogenannte Einzelfallprüfung statt.
Wenn das Gericht eine „alle Angelegenheiten umfassende Entscheidungsunfähigkeit“ festgestellt habe, sei der daraus folgende Schluss auf das „wahlrechtliche Unvermögen“ rechtlich nicht zu beanstanden, so die Experten. Assistenzsysteme zur Unterstützung bei der Wahl seien zwar möglich, sie müssten allerdings mit Maßnahmen zur Vermeidung von Manipulationen verbunden werden. Solche Assistenzsysteme seien aber bei Menschen, die zuvor als „entscheidungsunfähig“ eingestuft wurden, „kaum denkbar“.
In der Studie werden Diagnosegruppen von Schizophrenen, sogenannten Intelligenzgeminderten und Alzheimerkranken aufgelistet und deren Möglichkeiten und Hindernisse, an einer Wahl teilzunehmen und eine eigene Entscheidung zu treffen, genauer analysiert.
Die Wahlrechtsausschlüsse seien „ein Skandal“, sagt Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. „Ich bin überzeugt, dass die Menschen mit der richtigen Unterstützung in der Lage sind zu entscheiden, wer ihre Interessen auf Landes- und Bundesebene vertritt.“
Sind Nichtbehinderte manipulationsresistent?
Doch das Bild von Tausenden von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die gern wählen würden, wenn sie nur dürften und entsprechend unterstützt würden, stimmt so nicht. Das erfährt, wer sich auf die Suche macht nach Menschen unter voller Betreuung, die gern wählen würden. Die Recherche ist schwierig. Der Leiter einer Wohneinrichtung erklärt sogar rundheraus, ein verbales Interview mit dem Personenkreis der kognitiv Beeinträchtigten und voll Betreuten zum Wahlrecht sei „so gut wie ausgeschlossen“.
Acht Betroffene, beziehungsweise deren Betreuer, haben gegen den Wahlrechtsausschluss Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingelegt. Einer der Betroffenen ist Pascal K., 22 Jahre alt und Klient des Betreuungsvereins der Lebenshilfe Dortmund. In einem Video haben seine BetreuerInnen ihn interviewt. Der Verein hat es am 28. April bei einer Veranstaltung gezeigt.
Im Interview antwortet K. meist auf Ja-Nein-Fragen, dass er gern bei der Bundestagswahl wählen möchte und darüber „leicht wütend“ sei, dass er das nicht darf. Man kann sich gut vorstellen, dass K. anhand von Vorlagen eigene Entscheidungen darüber treffen kann, welche Partei er bevorzugt.
Trotzdem hat das Video einen merkwürdigen Beigeschmack. Es wirkt ein wenig wie eine Prüfungssituation, auch wenn die BetreuerInnen das sicher nicht wollten. Dem Video zugrunde liegt die Frage, ob ein Mensch mit einer starken kognitiven Beeinträchtigung entscheidungsfähig ist. Aber ist nicht die Frage schon eine Diskriminierung, ist sie vielleicht die falsche? Wer fragt eigentlich Nichtbehinderte nach ihrer Entscheidungsfähigkeit, nach ihrer Unabhängigkeit, ihrer Manipulationsresistenz bei einer Wahl? Das ist der Punkt.
Bettina Leonhard, Juristin bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe, hilft aus dem Dilemma. Sie ist grundsätzlich dagegen, das Wahlrecht an eine Wahlfähigkeit zu koppeln. „Das Wahlrecht sollte ein Grundrecht aller sein, unabhängig von geistigen Voraussetzungen“, sagt Leonhard.
Einige Bundesländer machen es anders
Dabei gehe es auch um Gleichbehandlung. Schließlich bekommen Menschen, die im Alter eine Demenz entwickeln, aber ihre Angehörigen davor mit einer Vorsorgevollmacht ausgestattet haben, problemlos Wahlscheine zugeschickt. Eine Vorsorgevollmacht ist etwas anderes als eine gesetzliche Betreuung. Wer dann wo bei der Briefwahl der alten dementen Mutter das Kreuz macht, kann niemand überprüfen.
In Ländern wie Österreich, den Niederlanden und in weiteren zwölf EU-Staaten existieren nach Angaben der Lebenshilfe keine pauschalen Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Behinderungen, egal welchen Betreuungsstatus sie haben. Die Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Wahlrechtsausschluss soll noch 2017 entschieden werden, ein genauer Termin steht aber nicht fest, sagt ein Sprecher des Gerichts. Ob es vor den Wahlen klappt, bleibt also unklar.
Unterdessen haben einige Bundesländer längst ihren eigenen Dreh gefunden. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen durften Behinderte unter voller Betreuung erstmals mitwählen. In Berlin und einigen nördlichen Bundesländern können alle Menschen mit Behinderungen ohnehin bei allen Wahlen mitmachen, Paragraf 13 hin oder her.
Die Länder praktizieren eine Art zivilen Ungehorsam mit einem bürokratischen Trick. Ein Terminus der „Betreuung in allen Angelegenheiten“ ist auf den Formularen der Amtsgerichte in Berlin zum Beispiel schlichtweg nicht vorgesehen – auch wenn Betroffene tatsächlich rundum gesetzlich betreut werden.
Jurstischer Trick
Die Sprecherin der Berliner Zivilgerichte, Annette Gabriel, erklärte dazu auf Anfrage, in fast allen Berliner Amtsgerichten gebe es „faktisch keine ‚Betreuung in allen Angelegenheiten‘.
Selbst bei Menschen, die dauerhaft im Koma liegen, ordnen die Gerichte zumeist Betreuung mit einzelnen Aufgabenkreisen an, zum Beispiel Gesundheitssorge, finanzielle Angelegenheiten, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Vertretung gegenüber Behörden und Gerichte; das umfasst dann eigentlich alles, es ist aber dennoch juristisch keine Betreuung in ‚allen‘ Angelegenheiten.“
Regelmäßig hätten die Berliner Wahlämter in der Vergangenheit bei den Amtsgerichten nachgefragt, weshalb Mitteilungen über Menschen unter voller Betreuung bei ihnen nicht eingehen, wie in anderen Bundesländern, berichtet Gabriel. Die Wahlämter erhielten dann „den Hinweis, dass es solche Betreuungen nicht gibt“. Sie müssen daher in Berlin die Wahlscheine auch an Behinderte unter umfänglicher Betreuung verschicken.
In Bayern ist der Anteil der Menschen unter Wahlrechtsausschluss am höchsten. Auch in Dortmund gibt es bei den Amtsgerichten den Terminus der Betreuung in „allen Angelegenheiten“. „Ich wäre dafür, das abzuschaffen“, sagt Gregor Rüberg, Geschäftsführer beim Betreuungsverein der Lebenshilfe Dortmund. Dann könnte auch Pascal K. bei der Bundestagswahl mit Hilfe der Betreuerin seine Kreuzchen machen. Fände er Briefwahl gut? „Ja“, sagt er.
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