Memoiren der Folk-Sängerin Vashti Bunyan: Die Frau auf dem Pferdewagen
Die britische Musikerin Vashti Bunyan veröffentlicht ihre Memoiren. Darin erzählt sie die Geschichte ihres mysteriösen Abtauchens in den 60ern.
Auf jeder Seite dieses Buchs sucht man die Antwort auf die eine eigentlich große Frage. Die nach dem Grund: Warum lässt ein Hippie-Mädchen mit Popstar-Ambitionen das Swinging London der späten 1960er hinter sich? Wieso spannt sie ein 20 Jahre altes Pferd vor einen noch viel älteren Brotwagen und zieht darin mit Freund und Hund zwei Jahre lang kreuz und quer über die britische Insel bis hinauf zu den Äußeren Hebriden? Weshalb nimmt sie ein zerbrechlich schönes Album über diese Reise auf, um im Anschluss für 30 Jahre unterzutauchen?
Aber „Wayward“, die gerade erschienene Autobiografie der mysteriösen britischen Folkmusikerin Vashti Bunyan, ist nicht gut darin, Antworten zu geben. Das Buch ist viel besser darin, Dinge geradezurücken. Manches wissen wir schon: Mitte der Sechziger ist Vashti Bunyan eine stille, schüchterne Frau, kaum 20, die eigene Songs komponiert und davon träumt, mit ihnen berühmt zu werden.
Sie lernt Andrew Loog Oldham kennen, den Manager der Rolling Stones, der sie 1965 einen Song von Mick Jagger und Keith Richards einspielen lässt. Eine pompös-orchestrierte Adaption von Bob Dylans „Blowin’ in the Wind“. Bunyan singt sie so widerwillig, wie sie die Marianne-Faithfull-Vergleiche hört.
Ihr eigenes Stück „I Want to Be Alone“, der bessere Song, wird auf der B-Seite versteckt. Schon das eine Kränkung. Die kargen Verkäufe der Single eine weitere. Als ein Jahr später auch die zweite Single floppt, hat Bunyan genug von London und der Musikszene. Sie steigt aus.
Name wie eine Geheimlosung
So weit, so unbestritten. Doch lange bevor Vashti Bunyan nun ihre eigene Geschichte aufgeschrieben hat, entstanden Erzählversionen der Reise von anderen. Sie lagerten sich ab auf ihrem 1970 erschienenen Soloalbum. In den 1990ern flüsterten sich Sammler:Innen seltener Folkplatten ihren Namen wie eine Geheimlosung zu.
Vashti Bunyan: „Wayward. Just Another Life to Live“, White Rabbit Books, London 2022, 208 Seiten, 20,95 Euro
Vashti Bunyan, die Frau mit dem Pferdewagen. Wollte aus London zu Donovans Landkommune auf die Isle of Skye. Monate über Land gezogen. Offene Landstraßen, knisternde Lagerfeuer, freie Natur – Gitarre immer parat. Schließlich alles gegossen in 14 glasknöcherne Songs über Regenbogenflüsse, Glühwürmchen und Tage wie Edelsteine. „Just Another Diamond Day“: ein Amalgam aus Leben und Werk. Zu romantisch, um wahr zu sein.
Deshalb ist „Wayward“ ein Korrektiv. Auch nach ihrer Wiederentdeckung durch US-Musiker:innen wie Devendra Banhart und Joanna Newsom vor etwa 20 Jahren und etlichen Neuauflagen ihres Albums hat Bunyan noch zu oft die Hippie-Bilderbuch-Version ihrer Fahrt gehört. Wenn sie über diese absurde Reise während zweier Sommer und eines Winters schreibt, klingt kaum etwas romantisch.
Ohne Geld unterwegs
Ihr Ton ist lakonisch. Die Sätze oft so dünn, dass man das Buch zwischendurch nur vorsichtig zuklappt, um sie nicht zu zerquetschen. Robert und Vashti sind ohne Geld unterwegs. Beide sind angewiesen auf die Großzügigkeit der Menschen auf ihrem Weg. Fremde, die Bess, das Pferd, auf ihren Wiesen grasen lassen, die den alten Wagen und seine jungen Bewohner nicht gleich vertreiben, die den bärtigen Langhaar-Schrat in Patchworkhose für ein bisschen Geld ihre Häuser streichen und die Frau in viktorianischen Nachthemden den Garten umgraben lassen.
Zwischen der Suche nach einem Acker für die nächste Nacht und einer neuen Pfanne für die durchlöcherte alte bleibt keine Zeit, Gänseblümchen zu flechten oder Steinkreise zu durchschreiten. Es ist zwar eine harte Fahrt in Richtung Skye, aber keine Himmelfahrt.
„Wayward“ ist keine Märtyrer-Schrift. Ja, einige schlagen dem durchgefrorenen und hungrigen Paar die Tür vor der Nase zu. Andere hetzen ihnen gleich Scotland Yard auf den Hals. Die meisten ignorieren sie schlicht. Trotzdem ist da kein Zorn, keine Härte. Bunyan schildert nur, sie bewertet nicht. Vieles reißt sie nur an. Die Beziehung zu Robert Lewis etwa, obwohl zentral für Vashtis Musik und die gesamte Reise, bleibt bis zum Schluss nebulös.
Die entfernte Roma-Verbindung in Bunyans Familie und die Thematik der englischen Traveller werden nur knapp gestreift. Und nur zwischen den Zeilen ist zu lesen, dass die persönlichen Verletzungen in London der Auslöser für die Reise sind. Das Scheitern als Musikerin und als Künstlerin rührt so tief, dass es gar nicht weit genug weg gehen kann vom Zentrum der Popmusik.
Dennoch bleibt die Hoffnung auf Anerkennung. Auf einem kurzen Abstecher zurück nach London, Weihnachten 1968 lernt sie den US-Produzenten Joe Boyd kennen. Gleichermaßen angetan von ihrer Reise und ihren Songs, verspricht Boyd, ein Album mit ihr aufzunehmen. Ein Jahr später heuert er Musiker aus der jungen britischen Folkrock-Szene um Fairport Convention an und löst sein Versprechen ein.
„Another Diamond Day“
Ohne Schlagzeug und spärlich arrangiert mit Klavier, Flöte und Streichern, ist „Another Diamond Day“ eines der zartgliedrigsten und intimsten Folkalben seiner Zeit. Vashti Bunyan flüstert mehr, als dass sie singt, spielt ihre akustische Gitarre so leise, dass man in Songs wie „Glow Worms“ neben ihr auf der Sitzbank des winzigen Holzwagens Platz nimmt.
Vashti Bunyan: „Just Another Diamond Day“ (Branch)
Stücke wie „Lily Pond“ oder „Come Wind Come Rain“ scheinen Kinderliedern entlehnt, doch alle 14 sind selbst geschrieben. Darunter auch Kleinode wie „Rose Hip November“, das vielleicht schönste Lied des Albums, fantastisch arrangiert von Robert Kirby. Joe Boyd zieht das Passende aus dem Sound seiner anderen Produktionen, das Dunkelsamtige der Nick-Drake-Alben, das Naturverliebte der Incredible String Band. Die Musik Vashti Bunyans drängt sich nie auf, man muss ihr genau zuhören.
Als ihr Album Ende 1970 erscheint, tut das kaum jemand. Einer der wenigen Rezensenten schreibt, die Musik würde ihn deprimieren. Von 50 verkauften Exemplaren ist die Rede.
Noch vor der Veröffentlichung erreichen Vashti, Robert, Bess und der Hund Blue die Isle of Skye. Aber Donovans Kommune ist voll. Es ist kein Platz für zwei weitere Menschen mit Pferd und Hund. Bunyan und ihre Begleiter scheint das kaum zu kümmern. Sie ziehen einfach weiter gen Westen, auf eine der entlegensten Inseln der Hebriden.
Auf der Suche nach dem einfachen Leben
Spätestens hier wird klar, dass diese Reise kein Ziel hat, keines haben kann. Bunyan sucht ein altes, einfacheres Leben. Doch die Inselbewohner, bei denen sie es zu finden hofft, warten auf Stromleitungen und einen Fernseher. Sie jagt ein Phantom.
Und wird selbst eines. Als sie viele Jahre später, inzwischen doch sesshaft gewordene Mutter dreier Kinder, ihren Namen in eine Suchmaschine eingibt, erfährt sie, dass ihr Debütalbum knapp 30 Jahre später zu einem Kultobjekt geworden ist, dass sich Menschen fragen, wo sie geblieben ist, dass junge Musiker wie Animal Collective mit ihr Musik machen wollen, Künstler wie Beck und Feist ihre Songs covern, Label bereit sind, ihre neuen Songs zu veröffentlichen, T-Mobile und Reebok Werbung mit ihren Songs unterlegen. Es ist das Happy End einer so gesehen dann doch sehr romantischen Geschichte.
„Just Another Life to Live“ lautet der Untertitel des Buchs, und das klingt weit schöner als „Kurs halten, dann kommt man schon an“. Oder, wie Vashti Bunyan es selbst im Song „Wayward“ schreibt: „All I ever wanted, was a road without end.“
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