Mehr Menschlichkeit für Schwerkranke: Formulare im Angesicht des Todes

Die Bürokratie, die zermürbend langsam arbeitet, sollte Schwerkranken erspart bleiben. Ein Plädoyer für eine neue Verwaltungsethik.

Die Verwaltungen stehen zeitlich weniger unter Druck als Sie mit Ihrer lebensbedrohlichen Diagnose. Bild: John Dow / photocase.de

Jedem kann das passieren: Sie werden im Krankenhaus untersucht, weil Sie Sprach- und Gleichgewichtsstörungen haben. Bis dahin fühlten Sie sich im Prinzip kerngesund und fit. Nach zwei Stunden Routineuntersuchung des Oberkörpers und Kopfes in einem MRT-Gerät eröffnet der Oberarzt Ihnen, dass Sie eine sehr aggressive Form von Lungenkrebs haben, der sich bereits ausgebreitet hat. Neben dem Tumor in der Lunge befinden sich Metastasen in der Leber und drei Tumore im Hirn von beträchtlicher Größe.

Um keine Zeit zu verlieren, wird seitens des Krankenhauses unverzüglich ein Therapieplan entwickelt. Unbehandelt schätzen die Ärzte die verbleibende Lebenszeit auf maximal drei Monate. Vieles wird Ihnen nun durch den Kopf gehen. Was wird bloß aus den Kindern, die noch in diesem Jahr eingeschult werden?

Aber verschwenden Sie nicht allzu viel Zeit mit Trübsal. Bevor Sie in Tränen ausbrechen, sollten Sie zuerst Ihre Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse und Ihrem Arbeitgeber melden. Sonst ist Ihr Konto rasch leer. Achten Sie peinlich genau darauf, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die Sie der Krankenkasse vorlegen, lückenlos sind. Der Sozialdienst des Krankenhauses stellt den Erstkontakt zur Krankenkasse her, so dass Ihnen zumindest schon mal die Formulare zugeschickt werden.

Formulare, Formulare

Um Formulare wird es im Weiteren ständig gehen. Beantragen Sie rasch eine Pflegestufe bei der Krankenkasse. Dann wird Sie jemand vom MDK, dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen, besuchen und begutachten. Sie müssen allerdings den Termin organisieren.

Genau wie den Antrag auf einen Schwerbehindertenausweis. Für den waren in Nordrhein-Westfalen bis zu deren Auflösung die Versorgungsämter zuständig, jetzt ist es eine städtische Dienststelle, in Köln mit dem Sachgebiet „Feststellungsverfahren nach Schwerbehindertenrecht“. Auch hierfür gibt es Formulare, die mit einem Passbild in genau definierter Größe vervollständigt werden müssen, das selbstverständlich ganz aktuell zu sein hat. Haben Sie solche Passbilder etwa nicht stets griffbereit?

Vergessen Sie nicht, einen Antrag für eine Haushaltshilfe bei der Krankenkasse zu stellen. Machen Sie sich auf einige Verzögerung gefasst, wenn Sie und Ihr Ehepartner bei unterschiedlichen Kassen versichert sind und sich keine von beiden zuständig fühlt.

Planen Sie locker eine Woche und mehr ein, bis Sie diese bürokratischen Prozesse angeschoben haben. Bei einer eingeleiteten stationären Krebsbehandlung mit Chemo- und Strahlentherapie eine sportliche Herausforderung. Achtung: Erwarten Sie bitte nicht, dass Verwaltungen ähnlich hoch getaktet reagieren, wie sich Veränderungen für Ihre Familie und Sie stündlich einstellen.

Die Verwaltungen stehen zeitlich weniger unter Druck

Sie müssen ausreichend Zeit einräumen für Prüfungen, Bewertungen und Entscheidungen. Schließlich begehren Sie Hilfen und nicht umgekehrt. Dass Ihre Sanduhr dabei leerläuft, liegt in der unglücklichen Verteilung von „einem tragischem Schicksal“ – so nennen es die Ärzte – auf Ihrer Seite und Verwaltungen, die möglichst rechtskonform handeln wollen. Und dabei zeitlich weniger unter Druck stehen als Sie mit Ihrer lebensbedrohlichen Diagnose.

Trösten Sie sich damit, dass Sie schon 50 geworden sind und sich bislang bester Gesundheit erfreuen konnten. Den besorgten Blicken der Familie begegnen Sie am besten optimistisch und sagen, dass Hilfen ja gewährt werden. Und dann ziehen Sie sich zurück, um weitere Formulare auszufüllen.

Das Gymnasium ist die populärste Schulart. Es verspricht höhere Bildung und einen guten Job. Warum sich trotzdem immer mehr Eltern und Kinder dagegen entscheiden, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 17./18. Mai 2014. Außerdem: Krise? Welche Krise? Eine Landkarte mit Beispielen aus der Eurozone zeigt: Den Reichen ging es hier nie schlecht. Und: Wie Rainer Höß, der Enkel des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß, mit dem Erbe seines Großvaters lebt. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Können bürokratische Abläufe in schwierigen Lebenslagen nicht vereinfacht werden? Der Arzt, der zuvor von seiner Schweigepflicht entbunden wurde, könnte bei lebensbedrohlichen Erkrankungen einfach den ICD-Code, den Diagnoseschlüssel, übermitteln.

Die Nachricht, dass bei dem krankenversicherten Patienten C34.9, eine bösartige Neubildung in der Lunge, und C79.3, sekundäre bösartige Neubildungen im Gehirn, diagnostiziert sind, sollte den Verwaltungsapparat doch in Gang bringen, um dem zahlenden Mitglied der Kasse sofort alle möglichen Hilfen vorzuschlagen: die Übernahme der Fahrtkosten bei ambulanten Behandlungen, Krankengeld, die richtige Pflegestufe oder eine Betreuung der Kinder durch den psychosozialen Dienst des Jugendamtes.

Wochen verstreichen

Es könnte so einfach sein: Der Patient erteilt sein Okay für die Angebote, die er wahrnehmen will, und die Krankenkasse leitet dann routiniert die nötigen Schritte eigenständig ein.

Die Praxis sieht ganz anders aus: Selbst wenn es gelungen ist, einen Antrag für eine Haushaltshilfe auszufüllen, ist das keine Gewähr, dass die Krankenkasse reagiert. Erst nach diversen Anrufen ist zu erfahren, dass weitere Unterlagen wie Arztbriefe fehlen. Statt das umgehend mitzuteilen, damit sie rasch nachgereicht werden können, lässt die Kasse Wochen verstreichen. Wie praktisch: In solchen Aussitz- und Schweigezeiten entstehen keine Kosten für die Krankenversicherung.

Sobald das erste Geld geflossen ist, warten weitere Formulare. Multiple-Choice-Fragebögen wünschen Kreuzchen an der richtigen Stelle, die ersichtlich machen sollen, wer was wann und bei wem an finanzieller Unterstützung beantragt hat oder ob schon Geld überwiesen wurde. Was würden sich die Verwaltungen der Krankenkassen, Kommunen und Rentenversicherungen vergeben, wenn sie ihre Hilfsangebote synchronisieren und im Krisenfall leicht abrufbar machten? Eigentlich kann eine solche Vernetzung kein Problem sein.

Vieles spricht für eine neue Verwaltungsethik, für Menschlichkeit bei bürokratischen Vorgängen im Angesicht des Todes. Denn es sind Steuergelder und Krankenkassenbeiträge, die diese Verwaltungen finanzieren. Sie könnten Empathie zeigen, statt Patienten zu kontrollieren und ihnen zu misstrauen. Denn so stellt sich das Gefühl ein, sie fühlten sich von Betrügern umzingelt – eine fast phobische Verallgemeinerung. Eine einfache Meldung der Diagnose unter Verzicht auf seitenweise Formulare – das würde Betroffene und ihre Familien ungemein entlasten.

Die Bürokratie, die zermürbend langsam ihre Vorgänge abarbeitet, sollte Schwerkranken erspart bleiben. Ihre knapp bemessene Lebenszeit sollte ihnen nicht von Verwaltungsvorschriften genommen werden.

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