Meeresökologe über Korallenriffe: „Bleichen finden häufiger statt“
Korallenriffe sind die wahrscheinlich wichtigsten Ökosysteme der Erde, meint Meeresökologe Christian Wild. Doch den Riffen geht es immer schlechter.
taz: Herr Wild, seit Jahren steigt die Temperatur in den Weltmeeren. In diesem Jahr aber gab es einen Sprung um mehrere Zehntel-Grad Celsius. Was ist da los?
Christian Wild: Der Klimawandel verursacht die klassische Ozeanerwärmung. Es wird nicht nur an Land immer wärmer, sondern natürlich auch im Wasser. In diesem Jahr kommen zwei Sondereffekte dazu: 2022 ist ein Unterwasservulkan ausgebrochen, wodurch den Meeren zusätzlich Wärmeenergie zugeführt wurde. Und im Juni begann das Wetterphänomen El Niño. Das führt am Anfang zu einer starken Erwärmung der oberen Wasserschichten im Pazifik in Tropennähe entlang der mittel- und südamerikanischen Küste.
70 Prozent unseres Planeten sind mit Wasser bedeckt. Nach Berechnungen des Weltklimarates ging mehr als 90 Prozent der Energie, die der menschengemachte Klimawandel bisher verursachte, in die Ozeane. Das ist bis zum Jahr 2019 gerechnet so viel Energie wie 3,6 Milliarden Atombomben der Hiroshimagröße. Wie sehe die Erde aus, wenn die Ozeane diese Wärme nicht aufgenommen hätten?
Dann hätten sich die Landmassen längst viel stärker aufgeheizt. 2 Grad mehr wären Realität. Wir würden höchstwahrscheinlich ein viel unruhigeres Leben mit stärkeren Wetterextremen führen: extremeren Dürren, heißeren Hitzewellen, noch zerstörerischen Starkregenereignissen und gigantischen Überschwemmungen.
Christian Wild ist seit 2010 Professor für Marine Ökologie an der Universität Bremen.
Der Weltklimarat sagt in einem Gutachten zu den Ozeanen aus dem Jahr 2018, dass bei einer Temperaturerwärmung von 1,5 Grad ungefähr 70 bis 90 Prozent aller Korallen weltweit verlorengehen. Was steckt dahinter?
Hier sind in erster Linie tropische Steinkorallen gemeint. Sie leben oft in Symbiose mit Mikroalgen und dieses Zusammenleben ist ihr Erfolgsrezept. Die Algen betreiben intensiv Photosynthese und liefern den Korallen so die Energie, die sie in Wachstum und Kalkskelettbildung investieren. Bei zu hohen Wassertemperaturen kommt es aber zum Abbruch dieser Symbiose, zur sogenannten Korallenbleiche.
Während der Bleiche sind die Steinkorallen zwar noch nicht tot, aber stark geschwächt. Sie wachsen fast nicht mehr und können sich auch nicht mehr gegen Konkurrenten wehren. Bleibt die Temperatur länger zu hoch, sterben die gebleichten Korallen oft ab. Der Bericht des Weltklimarat sagt voraus, dass es solche Korallenbleichen bei einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad immer öfter und immer extremer geben wird.
Aktuell sind wir auf einem Kurs von drei Grad Erderwärmung. Ist es vorstellbar, dass es Ende des Jahrhunderts weltweit keine Korallen mehr gibt?
Korallen sind nicht alle gleich. Es gibt zum Beispiel Korallen, die ohne Algensymbionten in der Tiefsee leben. Sie werden erst mal nicht von den hohen Temperaturen betroffen sein, die wir vor allem in den oberen Wasserschichten beobachten. Allerdings werden die wunderschönen Riffe, die die Steinkorallen bilden, höchstwahrscheinlich zu einem Großteil verschwinden, wenn sich die Erde tatsächlich um drei Grad erhitzt.
Lassen Sie uns an dieser Stelle noch einmal die Begrifflichkeiten klären. Was sind Korallen und wie viele verschiedene Arten kennen wir?
Korallen sind sogenannte festsitzende Nesseltiere. Sie besitzen spezielle Zellen, die Cnidocyten, die auch Nesselzellen genannt werden. Mit diesen Zellen verteidigen sich die Korallen und fangen Nahrung. Deswegen brennt es auf unserer Haut, wenn wir Korallen anfassen. Wir spüren die Nesselzellen, die bei Berührung explodieren und ein Gift injizieren. Wenn über Korallen gesprochen wird, sind meistens Steinkorallen gemeint. Davon gibt es ungefähr 2500 Arten. Sie sind wahre Ökosystemingenieure, die ganze Unterwasserwelten aufbauen.
Eine Unterscheidung kann nach der Wassertemperatur getroffen werden. Demnach gibt es Warmwasserkorallen und Kaltwasserkorallen.
Die tropischen Warmwasserkorallen leben in einem eng umgrenzten Temperaturbereich von ungefähr 20 bis 28 Grad Celsius, stellenweise maximal 30 Grad Celsius. Das sind auch die Korallen, die Riffe bilden. Liegt die Wassertemperatur darüber, kommt es zur Bleiche. Korallen gibt es aber auch im Kaltwasser. Kaltwasserkorallen betreiben keine Symbiose, haben also keine Algen in ihrem Gewebe. Sie tolerieren kältere Temperaturen bis sechs, sieben Grad, wachsen allerdings sehr langsam.
Die US-Behörde für Klima und Ozeanografie hat wegen der hohen Wassertemperaturen vor einer beispiellosen Korallenbleiche in diesem Jahr gewarnt. Was kommt auf uns zu?
Vorweg: Korallenbleichen gibt es schon seit langer Zeit. Immer, wenn es einen Umweltstress gibt, fangen die Korallen an zu bleichen. Die Symbiose bricht ab und die Mikroalgen verlassen das Korallengewebe, deswegen geht ein Großteil der Färbung verloren. Wenn der Stress nachlässt, kann die Bleiche wieder rückgängig gemacht werden: Die Korallen nehmen wieder Algen auf. Im Optimalfall sind das sogar Algen, die besser mit der Umweltveränderung zurechtkommen. So passen sich die Korallen an.
Das Problem, das wir im Moment erleben, ist, dass diese Bleichen immer häufiger stattfinden. Hatten wir im vergangenen Jahrhundert maximal eine Korallenbleiche pro Jahrzehnt, so wiederholt sie sich jetzt schon alle fünf Jahre. Mancherorts fast jährlich. Den Korallen bleibt kaum noch Zeit, um sich von einer Bleiche zu erholen, bevor die nächste Bleiche stattfindet.
Wo ist es gerade besonders dramatisch?
Im Moment ist im Atlantik ein extremes Hitzeereignis zu beobachten. Im Golf von Mexiko in der Karibik haben die Steinkorallen schon im Juni angefangen zu bleichen. Das findet dort normalerweise aber erst im August statt. Meine Kollegen, die vor Ort sind, berichten schlimme Dinge: Dort findet nicht nur die Bleiche statt, sondern auch Mortalität, also das Absterben von Korallen.
Warum sollten sich die Menschen in Mitteleuropa für diese Krise interessieren?
Die von Steinkorallen geschaffenen Riffe sind wahrscheinlich die wichtigsten Ökosysteme der Erde. Sie bieten durch ihre massiven Kalkstrukturen einen großen globalen Küstenschutz und sind durch ihre Produktivität eine wichtige Nahrungs- und Proteinquelle. Sie sind aufgrund ihrer Schönheit wichtig als touristische Einkommensquelle für Millionen von Menschen. Außerdem beherbergen sie von allen Ökosystemen der Erde die höchste Biodiversität. Das ist ein großer Schatz mit einer unglaublichen Vielfalt an aktiven Substanzen, die die Menschheit nutzen kann, um zum Beispiel neue Medikamente zu entwickeln. Ohne Korallenriffe wäre unsere Welt in vielerlei Hinsicht ärmer.
Es gibt Versuche, Riffe in kältere Regionen umzusiedeln. Was halten Sie davon?
Nicht sehr viel. Erstens ist das ein Riesenaufwand. Zweitens beschränkt sich die Verbreitung der Korallenriffe ja nicht auf die Wassertemperatur. Andere Faktoren sind wichtig, etwa die Sättigung mit Karbonat. Das ist Voraussetzung für die Skelettbildung. Außerhalb der Tropen ist die Sättigung mit Karbonat nicht so hoch. Umsiedlungen in gemäßigte Breiten sind extrem teuer, extrem aufwendig, aber gleichzeitig sehr riskant und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erfolgreich. Es gibt andere Ansätze, von denen ich mir deutlich mehr verspreche.
Zum Beispiel?
Die Wiederaufforstung von Korallenriffen mithilfe der assistierten Evolution. Das ist eine Methode, bei der durch Züchtung bestimmte Merkmale gestärkt werden, wie beispielsweise die Hitzetoleranz. Die assistierte Evolution kann uns helfen, Korallenriffe dabei zu unterstützen, sich an den Klimawandel anzupassen. Ein zweiter Weg ist es, andere Stressfaktoren wie Überfischung und Düngung in den Riffen zu minimieren.
Dann ist es also gar nicht so schlimm, wenn wir in der Bundesrepublik mit dem abgeschwächten Heizungsgesetz beim Klimaschutz nicht vorankommen?
Nein. Ohne drastische Emissionsreduktionen weltweit geht der Kampf um die Korallen verloren. Wir können mit den oben beschriebenen Maßnahmen etwas Zeit gewinnen. Wenn wir es aber nicht schaffen, klimaneutral zu leben, werden wir spätestens 2100 fast alle unsere Riffe verloren haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern