Medienversagen beim NSU: „Wir waren blind“
Jahrelang zog der NSU unerkannt mordend durchs Land. Die Ermittler machten die Opfer zu Verdächtigen – und die Medien folgten.
„Raubüberfall, Rache, Mafia-Verstrickungen?“ (Nürnberger Nachrichten, 11.9.2000)
Es ist der 9. September 2000. In Nürnberg wird der Blumenhändler Enver Şimşek erschossen, an seinem kleinen Stand an einer Ausfallstraße. Von den Tätern: keine Spur. Die Ermittler rätseln, die Medien auch. Warum musste Şimşek sterben? „Gebietsstreitereien unter fliegenden Händlern“, spekulieren die Nürnberger Nachrichten. „Gerüchte bringen aber auch die Mafia ins Spiel.“ Nur eines wirkt schnell erwiesen: „Ein politischer Hintergrund scheint nicht gegeben.“
Erst elf Jahre später wird klar: Die Ermordung von Enver Şimşek hatte nichts anderes als einen politischen Hintergrund. Die Täter waren Rechtsextreme – der „Nationalsozialistische Untergrund“. Am 4. November 2011 fliegt die Terrorzelle auf, als sich nach einem Banküberfall in Eisenach die von der Polizei umzingelten Neonazis Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos erschießen. In Zwickau zündet Beate Zschäpe den letzten Unterschlupf an, im Brandschutt finden Ermittler die Tatwaffe von Nürnberg, eine Ceska 83.
In einer DVD bekennt sich der NSU auch zu neun weiteren Morden. An dem Schneider Abdurrahim Özüdoğru, dem Obsthändler Süleyman Taşköprü, dem Gemüseverkäufer Habil Kılıç, dem Hilfsarbeiter Mehmet Turgut, dem Imbissbetreiber İsmail Yaşar, dem Schlüsseldienstbesitzer Theodoros Boulgarides, dem Kioskinhaber Mehmet Kubaşık, dem Internetcafébetreiber Halit Yozgat, der Polizistin Michèle Kiesewetter.
2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit
Für die Ermittler ist es ein Desaster: Über Jahre zog eine Gruppe Neonazis mordend durchs Land. Immer wieder fragte die Polizei die Hinterbliebenen nach möglichen Drogengeschäften der Opfer, nach Mafiakontakten, nach geheimen Geliebten. Es war alles falsch. Eine Niederlage ist die Mordserie aber auch für die Medien.
„Nach Informationen der Welt wurden die sechs Türken im Auftrag einer aus den Bergen Anatoliens heraus operierenden Bande ermordet.“ (Welt, 15.6.2005)
Die NSU-Mordserie hätte ein Paradebeispiel für die Notwendigkeit einer Gegenöffentlichkeit sein können. Das kritische Hinterfragen der Ermittlungsergebnisse, die eigene, investigative Recherche, das Anhören der Opfer und ihrer frühen Vermutungen, die Täter könnten doch auch Rechtsextreme sein. Hier hätte die „Vierte Gewalt“ ihre Unabhängigkeit beweisen können – und die Fehlfährten der Fahnder korrigieren.
Aber fast nichts davon geschah. Schlimmer noch: Auch einige Medien verstärkten den Verdacht gegen die Betroffenen und mutmaßten „die Türken“ müssten mehr wissen, als sie preisgeben. Der Journalismus versagte mit.
Die Presseschau: erschütternd!
„Die schwer durchdringbare Parallelwelt der Türken schützt die Killer.“ (Spiegel, 2006)
Schon wenige Tage nach dem NSU-Bekanntwerden im November 2011 hatte die taz eine Analyse über Presseartikel vorgelegt, die über die Ceska-Mordserie erschienen. Das Ergebnis war bitter: Über alle möglichen Motive hatten die Journalisten spekuliert. Nur ein rechtsextremes gehörte fast nie dazu.
Von einer möglichen Verbindung der Opfer „in den Rauschgiftbereich“ berichtete die Welt, als 2001 die überregionale Presse in die Berichterstattung einstieg. Später wusste das Blatt von einer Istanbuler Handelsfirma, „europaweit mit Drogenschmuggel, Menschenhandel und dem Verschieben gestohlener Autos tätig“. Die Hamburger Morgenpost schrieb: „Eine erste Spur führt in die Amsterdamer Unterwelt.“ Die Süddeutsche berichtete, „sämtliche Opfer“ hätten angeblich Geld in ein „illegales türkisches Unternehmen gesteckt, das die Geldanleger anschließend zu Drogen- und Geldwäschegeschäften zwinge“.
Das Nachrichtenmagazin Focus zitierte 2006 den Leiter der Sonderkommission Wolfgang Geier: Von einem ausländerfeindlichen Hintergrund halte er überhaupt nichts. In der Süddeutschen Zeitung klagt Geier später über die türkische Community. Er habe „angesichts der Mauer des Schweigens“ den Eindruck, dass „die Türken noch nicht in dieser Gesellschaft angekommen sind“. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel raunt wiederholt von einer „düsteren Parallelwelt“. Die Medien zitierten diese Verdächtigung gegen die Opfer, sie veröffentlichten die von den Ermittlern gemutmaßten Tatmotive. Aber hinterfragen sie sie auch? Davon jedenfalls ist nichts zu lesen.
Die Rechten im Blick – die Morde übersehen
2015 legt die Otto-Brenner-Stiftung eine ausführliche Medienstudie über die Ceska-Mordserie vor. Mehr als 300 Artikel hatten die Autoren analysiert. Die Deutungsmuster der Ermittler seien „unkritisch übernommen und öffentlich verstärkt“ worden, bilanzierten auch sie ernüchtert. Aus Vermutungen seien Tatsachen gemacht worden. „Viel zu wenig“ sei selbst recherchiert worden, Empathie mit den Opfern „nicht zu beobachten“ gewesen.
„Es gibt vier heiße Spuren: Drogenmafia, organisierte Kriminalität, Schutzgeld, Geldwäsche.“ (Bild, 12.6.2006)
Es hätte anders kommen können. Das Wissen, dass sich Neonazis in den neunziger Jahren radikalisierten, dass sie zu Waffen griffen, das existierte in einigen Redaktionen. Auch die Aufmerksamkeit für rassistische Gewalttaten war da. Nur wenige Tage vor dem Mord an Enver Şimşek veröffentlichte der Tagesspiegel eine aufwändig recherchierte Chronik rechter Todesopfer seit 1990 in Deutschland. Enver Şimşek aber gehörte nicht dazu.
Mitautorin Heike Kleffner zeigte sich später zerknirscht. Als Ursache benannte sie ein „übergroßes Vertrauen“ in die Polizei, sobald es um Organisierte Kriminalität geht. Und die letztlich falsche Hoffnung, dass sich Neonazi-Gewalt in brutalen Einzelfällen artikuliere, nicht aber in einer ganzen Mordserie.
„Dönermord“: Angehörige werden ignoriert
Und noch ein Defizit identifizierten Kleffner genauso wie die Brenner-Stiftung: die mangelnde Kommunikation der Journalisten mit türkischen Migranten. Mehr noch pflegten auch sie offensichtlich Stereotype über die Community. Als Sinnbild steht dafür der Begriff „Döner-Morde“. Laut Brenner-Studie wurde er erstmals 2005 in den Nürnberger Nachrichten verwendet. Eine platzbedingte Kürzung, sagte der damalige Autor.
Danach übernahmen den Begriff andere Medien, einmal auch die taz. Was aber sollte das heißen? Die Opfer als „Döner“? Es war nichts anderes als eine gedankenlose Herabsetzung. 2011 wurde der Begriff, zurecht, zum Unwort des Jahres gekürt.
Dabei hätte es schon geholfen, hätten die Medien nicht nur die Ermittler, sondern auch die Opferangehörigen zu Wort kommen lassen. Denn diese vermuteten früh, dass die Täter Rechtsextreme sein könnten. Ein „Türkenfeind“ könnte hinter den Morden stecken, sagte Ismail Yozgat, der Vater des erschossenen Halit Yozgat, schon 2006. Ebenso Gamze Kubaşık, die Tochter des in Dortmund erschossenen Mehmet Kubaşık, äußerte diese These wiederholt, auch in einem langen Interview mit dem WDR – der Part wurde herausgeschnitten und nie gesendet.
Die Angehörigen trugen ihren Verdacht sogar auf die Straße. Im Juni 2006 demonstrierten fast 200 Menschen in Dortmund, nachdem dort Mehmet Kubaşık erschossen wurde: „Wir wollen kein 10. Opfer.“ Erst jetzt stieg auch die taz in die Berichterstattung über die Mordserie ein – und zitierte einen Vertreter des Alevitischen Kulturvereins: „Alle Opfer sind Migranten. Da ist doch ein rechtsextremistischer Hintergrund sehr einleuchtend.“ Die Stimme verhallte. Die Brenner-Stiftung beklagte, außer in der taz sei die Demonstration „medial weitgehend unbeachtet geblieben“.
Erste Ahnung vom Serienmord
„Die Spur der Morde führt in eine düstere Parallelwelt, in der eine mächtige Allianz zwischen rechtsnationalen Türken, dem türkischen Geheimdienst und Gangstern den Ton angeben soll.“ (Spiegel, 21.2.2011)
Dennoch war 2006 das Jahr, in dem die Berichterstattung auch ein rechtsextremes Motiv kurzzeitig thematisierte – nach neun erfolgten NSU-Morden.
Ein Profiler hatte eine neue Hypothese aufgestellt: Der Mörder könnte ein Serientäter sein, der seine Opfer zufällig auswähle und negative Erfahrungen mit Türken gemacht habe. Die These wurde später wieder ausgeblendet.
Der Spiegel spekulierte 2009 dagegen wieder: Es gebe Spuren zur Wettmafia. „Wer nicht zahlen kann, der wird übel zugerichtet.“ Noch im August 2011 berichtet das Blatt über einen Zeugen, der die Ermittler zu „einer romantischen Villa nahe des Bodensees führen“ könne. Dort liege die Ceska in einem Tresor. „Die Morde, so viel wissen die Ermittler, sind die Rechnung für Schuld aus kriminellen Geschäften oder die Rache an Abtrünnigen.“ Neun Wochen später flog der NSU auf.
Die Abrechnung der Medien – auch mit sich selbst
„Wir waren alle blind.“ (Christian Fuchs, Zeit-Autor, 1.10.2012)
Das Bekanntwerden der rechten Terrorzelle ist auch für die Medien ein Schock. „Wir haben unser wichtigstes Werkzeug – die Frage – über Bord geworfen“, gibt sich die ARD-Journalistin Marjan Parvand selbstkritisch. „Willfährig“ sei man den „Irrwegen der Ermittler“ gefolgt, räumt Süddeutsche-Autor Tanjev Schultz ein.
Was folgte, war eine radikale Umkehr. In großen Artikeln wurden Ermittlungsfehler im NSU-Komplex und Verfassungsschutzversagen enthüllt. Auch die taz bildete für die Berichterstattung eine Taskforce. Intensiv wurden die anlaufenden Untersuchungsausschüsse und der NSU-Prozess in München begleitet.
Jahrgang 1984, ist taz-Experte für innere Sicherheit. Er beschäftigt sich dabei viel mit Rechtsextremismus und dem NSU. Studium der Publizistik und Soziologie.
Und heute? Ist das Bild ambivalent. Für viele Medien scheint das Thema NSU wieder abgehakt, aus München und den noch immer laufenden Ausschüssen haben sie sich verabschiedet. „Erschreckend schnell“ sei „der größte Skandal der vergangenen Jahre“ medial in den Hintergrund gerückt, stellte die taz bereits Anfang 2012 fest. Einige KollegInnen sehen das genauso – und bleiben bis heute an dem Thema dran.
Beim NSU-Prozess in München haben die SZ, dpa oder der Bayrische Rundfunk seit vier Jahren keinen Verhandlungstag verpasst. Auch die taz reist immer wieder an. Und zusammen mit anderen berichten auch wir weiter über neue Gefahren rechten Terrors – komme sie nun von radikalisierten Flüchtlingsfeinden in Freital, von Reichsbürgern oder einer selbsternannten „Oldschool Society“.
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