Medienethik-Debatte nach Nizza: Drei, zwei, eins – live

Welche Videos und Bilder dürfen nach Anschlägen gezeigt werden? Eine moralische Frage, die längst nicht mehr nur JournalistInnen betrifft.

Eine Luftaufnahme der Strandpromenade von Google Earth.

Die Strandpromenade von Nizza Foto: dpa

Darf man das zeigen? Nach dem Anschlag in Nizza, wird erneut die immer und immer wiederkehrende medienethische Frage nach Terroranschlägen aufgeworfen. Schon 2001, bei den Angriffen auf die Twin Towers in New York, soll das Ziel danach ausgesucht worden sein, das garantiert sei, dass die Bilder davon um die Welt gehen würden: sehr viele Touristen gleich viele Kameras.

Außerdem waren die großen Fernsehsender und Agenturen gleich um die Ecke. Sie hatten damals quasi ein Monopol auf die reichweitenstarke Verbreitung von Bewegtbildern. Wie gesagt: 2001, eine Zeit vor Smartphones und massenhaft Videocontent im Netz, als man fast jede Bestellung noch mit einem unterschriebenen Fax bestätigen musste.

Heute hat niemand mehr ein Monopol darauf. Die Journalisten sind als Gatekeeper ausgeschaltet. Wer Bilder, Texte und vor allem Videos, die emotional wohl wirksamste Darstellungsart, verbreiten will, kann es. Einfach so: Smartphone, Twitter, Facebook, du bist live in drei, zwei, eins.

Die zynische Rechnung ist aus Sicht der Attentäter noch simpler geworden: Sehr viele Menschen gleich sehr viele Kameras gleich sehr viel Öffentlichkeit. Das ist übrigens die gleiche Logik, nach der auch jede Werbeagentur oder Organisation versucht, mit geringem Mitteleinsatz aus einem lokalen Ereignis zumindest ein überregionales wenn nicht gar globales zu machen.

Ethische Frage – ohne „medien“

Und so ist aus der einst medienethischen Frage längst eine ethische Frage geworden, eine moralische. Wenn man mal annimmt, dass das „medien-“ einstmals für die großen Massenverbreiter galt: fürs Radio, fürs Fernsehen, fürs Zeitungen, für deren Macherinnen und Macher, die sich besser ein, zwei Gedanken machen sollten, bevor sie etwas in die Welt hinausbliesen.

Das nimmt Journalisten nicht aus der Pflicht, zu denken. France 2 zeigte Todesopfer und Verletzte in Nahaufnahme. Eine ziemlich eindeutige Grenzüberschreitung. Der Sender entschuldigte sich später dafür.

Auch der ARD-Kollege Richard Gutjahr war in Nizza, als der Fahrer mit seinem LKW die Menschen an der Promenade überrollte. Er schrieb darüber bei Twitter. Er filmte. Aber: Er sendete nichts live. Er stellte nichts von sich aus in die sozialen Netzwerke. Er schickte sein Material an die Redaktionen von WDR und Bayerischem Rundfunk und an ARD-aktuell. Die sollten sichten, entscheiden.

Teile davon wurden zu den ersten Videobildern, die die ARD in der Nacht sendete. Darauf zu sehen: Ein weißer LKW, fliehende Menschen, in einiger Entfernung auch Opfer, die auf dem Asphalt liegen. Sie sind nicht identifizierbar. Zu hören: Schreie und Schüsse. Gutjahr wurde via Liveschalte von der Moderatorin befragt. Die klassische Arbeit des Fernsehreporters.

Wichtige Auseinandersetzung – für jedeN

Gutjahr hat nachgedacht. Das war gut. Dennoch musste er sich kurz darauf den Fragen einiger Nutzer stellen, ob diesen seine Bilder gezeigt werden sollten.

Es ist völlig okay, solche Fragen zu stellen. Es ist sogar wichtig, solche Fragen zu stellen. Doch sie gingen wohl an den Falschen: „Leute, geht jetzt schon die Ethik-Diskussion los? Habe KEINEN Livestream gemacht. Footage an BR/WDR/ARD geschickt. Dort sitzen Profis“, antworte Gutjahr bei Twitter kurz nach seiner Schalte im „Nachtmagazin“.

Die Auseinandersetzung damit, ob man das oder das oder das zeigen darf, ist eben längst keine mehr, der sich ausschließlich ebenjene Profis stellen müssen. Heute muss sich jede/r selbst fragen, ob das, was er oder sie da verbreitet, dieses Bild oder Video, tatsächlich verbreitet werden sollte.

Ob man solche Aufnahmen vom Tod seiner Angehörigen sehen wollen würde? Ob es nicht Besseres zu tun gebe, als sich das Handy zu schnappen und Opfer zu filmen? Niemand kann sich sicher sein (es sei denn, man verbietet es explizit), dass der kleine Videoschnipsel, den man gerade hochgeladen hat, über Teilen, Likes und Retweets mehr Menschen erreicht als es jedes Fernsehnetzwerk kann. Jede/r kann live sein – in drei, zwei, eins.

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