Medien in Chile 50 Jahre nach dem Putsch: Schalt den Fernseher aus!

Insbesondere Ak­ti­vis­t*in­nen misstrauen den Medien in Chile. Sie sehen in Presse und TV einen Akteur, der ihren Interessen entgegensteht.

Ein Mann schwenkt bei Dunkelheit die chilenische Fahne. Er steht mit dem Rücken zur Kamera

Schauspieler schwenkt chilenische Flagge: Theateraufführung über politische Gewalt unter Pinochet Foto: Ivan Alvarado/reuters

Einzelfälle waren es beileibe nicht. Die Unmutsbekundungen, die Ver­tre­te­r*in­nen von Medien und insbesondere Fernsehsendern während der massiven sozialen Proteste vom Oktober 2019 entgegenschlugen, waren zahlreich und vielfältig. Große TV-Sender konnten beispielsweise die Massendemonstrationen in Santiago nicht mit Kamerateams begleiten, da diese sofort von Demonstrierenden konfrontiert wurden. Ein ähnliches Bild zeigte sich abseits der Hauptstadt in Regionen wie Bio Bio und Valparaíso. Communitysender oder Medien aus dem Ausland hingegen wurden von den Demonstrierenden größtenteils mit offenen Armen empfangen, teilweise wurden sie sogar aktiv in ihrer Arbeit unterstützt. Sinnbildlich dafür steht eine Szene, in der Demonstrierende einer Journalistin und einem Kameramann des argentinischen TV-Senders Telefé im Zentrum von Santiago zur Hilfe eilten, als sie während einer Liveschalte mit Tränengas angegriffen wurden.

Umfragen belegen, dass viele Menschen dem Fernsehen misstrauen. Das gilt insbesondere für Mitglieder sozialer Organisationen und Aktivist*innen. Sie sehen in den Medien einen Akteur, der ihren Interessen entgegensteht. Wird über Demonstrationen berichtet, verteidigen die großen Medienhäuser den Status Quo, das neoliberale Modell sowie die Regierungsbehörden. Über Forderungen der Bür­ge­r*in­nen wird hingegen tendenziell weniger berichtet, sie werden lächerlich gemacht oder kriminalisiert.

Bür­ge­r*in­nen und Medienschaffende haben auf derlei Erfahrungen reagiert und eigene Projekte angestoßen. Diese bewegen sich außerhalb der traditionellen Medien über Netzwerke von Ak­ti­vis­t*in­nen und unabhängige Medieninitiativen wie Piensa Prensa, Radio Villa Francia, Canal Señal 3 La Victoria, Radio Los Placeres oder Resumen.

Andere wiederum setzen auf einen Journalismus, dessen Berichterstattung sich vom neoliberalen Mainstream der traditionellen chilenischen Medien unterscheidet, wie beispielsweise dem von El Desconcierto, El Mostrador und Interferencia. Ebenfalls bedeutend für die Medienlandschaft des Landes ist die Entstehung von Nachrichtenseiten, deren Schwerpunkt auf eigenen Recherchen liegt. Besonders stechen hierbei die jüngsten Erzeugnisse von Labot und die hervorragende Arbeit des Centro de Investigación Periodística (CIPER) hervor.

Linke Perspektiven werden stark gemacht

Der Text ist am 8. September 2023 als Teil einer achtseitigen Chile-Beilage in der taz erschienen. 50 Jahre ist es her, dass in Chile ein von den USA unterstützter Militärputsch am 11. September 1973 der demokratisch gewählten Regierung des Sozialisten Salvador Allende ein jähes Ende setzte. Mehr als 3.000 Menschen kamen während der folgenden Diktatur (1973 – 1990) ums Leben, noch mehr wurden inhaftiert, gefoltert und ins Exil getrieben. Die taz Panter Stiftung nimmt das Jubiläum zum Anlass, um zusammen mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und unterstützt von der Stiftung Umverteilen an die damaligen Geschehnisse zu erinnern und zugleich zu fragen, wie die Ereignisse vor 50 Jahren die gesellschaftlichen Verhältnisse von heute beeinflussen. Einige Texte wurden auch auf Spanisch veröffentlicht.

Das so entstandene Spektrum an Medien ist vielfältig und bietet eine Alternative zum seit Jahren existierenden Einheitsbrei der chilenischen Medien. Linke Perspektiven werden stark gemacht, ein Journalismus abseits des neoliberalen Mainstreams entwickelt und ein gründlicher und rigoroser Investigativjournalismus betrieben.

Diese Vielfalt ist beachtlich. Insbesondere, da in Chile nach dem Ende der Diktatur von General Augusto Pinochet im Jahr 1990 die unabhängige Presse und diejenige, die sich für ein Ende der Diktatur eingesetzt hatte, verschwand. An ihre Stelle trat ein Journalismus, der sich in den Händen einiger Weniger konzentriert, die das Erbe Pinochets verteidigen – so zum Beispiel beim wichtigsten Zeitungsverlags des Landes, El Mercurio. Dieser gehörte früher keinem Geringeren als Agustín Edwards, der Anfang der 70er Jahre von der CIA finanziert wurde und mit der US-Regierung unter Richard Nixon einen Komplott zum Sturz des Präsidenten Salvador Allende schmiedete.

Auch das Aufkommen sozialer Medien hat die von der Diktatur vererbte Medienlandschaft verändert. Bis zu einem gewissen Grad konnten sie deren hegemoniale Stellung beeinträchtigen. Dazu, dass die Bevölkerung insgesamt besser informiert wäre, hat ihr Aufstieg jedoch nicht unbedingt geführt. Stattdessen nahm besonders in den vergangenen zehn Jahren das Maß an Desinformation zu. Diese ist auch die Folge von speziell entwickelten Internetkampagnen, mit denen die Menschen getäuscht, verwirrt und belogen werden sollen. Das Problem existiert auf der ganzen Welt. Dass es auch in Chile nicht unbekannt ist, beweisen die Kampagnen zu den letzten Präsidentschaftswahlen sowie zur Abstimmung für den Verfassungsrat.

Desinformation hat sich ausgebreitet

Das Virus der Desinformation hat sich auch in der traditionelleren Presse ausgebreitet, was zur Entstehung einer Reihe von Plattformen zur Faktenüberprüfung (Fact-Checking) geführt hat. Diese konnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, sowohl von Medien als auch von Behörden, Institutionen oder Einzelpersonen lancierte falsche oder irreführende Aussagen als solche zu entlarven. Beispielhaft dafür stehen Websites wie Mala Espina Check und Fast Check, die beide unmittelbar nach dem Ausbruch der „sozialen Explosion“ im Jahr 2019 entstanden. Ihre Gründung lässt sich durch die schiere Menge an Falschinformationen und das große Misstrauen gegenüber den traditionellen Medien erklären. Die An­hän­ge­r*in­nen­schaft beider Seiten in den sozialen Medien ist dabei ständig gewachsen; Fast Check beispielsweise zählt auf Instagram mittlerweile 246.000 Follower.

Die neu entstandenen unabhängigen Medien sowie die Seiten zur Faktenüberprüfung stellen einen journalistischen Ansatz dar, der wichtige Akzente in Chiles Medienlandschaft setzt. Diese ist noch immer von privaten Fernsehsendern, Print- und Onlinemedien sowie Radiosendern dominiert, deren Reichweiten und Möglichkeiten, Inhalte zu generieren, weitaus größer sind als die anderer. Öffentlich-rechtliche Medien gibt es in Chile keine. Noch düsterer wird das Bild durch Akteure, die einzig zu dem Zweck geschaffen werden, Falschinformationen zu verbreiten, insbesondere während Wahlkampagnen. So unterstützte beispielsweise der Argentinier Fernando Cerimedo mit seinem Desinformationsunternehmen in Argentinien, Brasilien und Chile rechte und ultrarechte Initiativen und Projekte.

Die Medienlandschaft 50 Jahre nach dem Putsch

Zwar herrscht in Chile fünfzig Jahre nach dem Putsch eine gewisse Medienvielfalt. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Medien gleich behandelt werden, gleichberechtigt sind oder ihr Einfluss gerecht verteilt ist. Mit anderen Worten: Die schiere Tatsache, dass es viele Akteure gibt, heißt nicht, dass alle über das gleiche Gewicht verfügen. Es sind nach wie vor die – ideologisch und vom Format her homogenen – kommerziellen Medienplattformen, die darüber entscheiden, wer in der Öffentlichkeit sprechen, etwas darstellen oder auch nur vorkommen darf.

Zwar herrscht in Chile fünfzig Jahre nach dem Putsch eine gewisse Medienvielfalt

Auch wenn es in Chile also durchaus Qualitätsjournalismus gibt: Über Einfluss auf die breite Bevölkerung verfügt er nicht. Der Großteil der Menschen bezieht seine Informationen über das Fernsehen und die sozialen Medien. Das heißt, über Medien, die gezielt Ängste schüren und den Eindruck zu vermitteln versuchen, Chile stünde vor einem Linksruck und steuere auf ein absolutes Debakel zu. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass 27 Prozent der Bevölkerung glauben, in Chile herrsche ein kommunistisches Regime.

Das traditionelle Fernsehen steht in Chile also keineswegs vor seinem Ende. Im Gegenteil: Es ist weiter sehr lebendig und spielt eine zentrale Rolle dabei, die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnisse, die von Pinochet und seinen Ideologen für das Land entworfen wurden, aufrechtzuerhalten.

Aus dem Spanischen: Frederic Schnatterer

Jorge Saavedra Utman ist Journalist und BA in Sozialer Kommunikation, (Pontificia Universidad Católica de Valparaíso), MA in Politischer Kommunikation (Universidad de Chile) und PhD in Kommunikation und Medien (Goldsmiths, University of London). Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien, Kommunikation und politischer Aktivismus sowie Kulturwissenschaften und sozialer Wandel.

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