Massenproteste in Ungarn: Orbáns Doppelmoral beim Kinderschutz
Zehntausende protestieren gegen die Orbán-Regierung. Der Auslöser: Ein Bericht über Misshandlung von Jugendlichen in einer Strafanstalt.
Zehntausende Menschen haben am Wochenende in der ungarischen Hauptstadt Budapest gegen Premierminister Viktor Orbán demonstriert. Auslöser sind Videos aus einer staatlichen Jugendstrafanstalt, die zeigen, wie Minderjährige systematisch misshandelt wurden.
Die Aufnahmen dokumentieren Schläge, Demütigungen und Gewaltexzesse durch Aufsichtspersonal. Was die Empörung noch verstärkt: Ein interner Bericht von 2021 belegt, dass die Regierung seit Jahren von mehr als 3.300 Misshandlungsfällen in Kinderschutzeinrichtungen wusste, ohne zu handeln. Der Bericht wurde am Freitag von der Oppositionspartei von Péter Magyar veröffentlicht.
Angeführt wurde auch die Demonstration von Magyar. „Es ist vorbei“ skandierten die Menschenmassen, die zu Orbáns Amtssitz am Burgberg zogen. Ähnliche Proteste vor knapp zwei Jahren legten den Grundstein für die politische Karriere von Magyar, dem aussichtsreichstem Oppositionskandidaten seit Jahren. Seine Tisza-Partei liegt mittlerweile in vielen Umfragen vor Orbáns Fidesz. Im Frühling, voraussichtlich Mitte April, finden reguläre Parlamentswahlen statt.
Die belastenden Aufnahmen stammen aus der Justizvollzugsanstalt in der Budapester Szőlő-Straße, wo die Polizei diese Woche eine Razzia durchführte. Auch Premier Orbán äußerte sich in einem regierungsnahen Medium zu dem Fall: „Selbst ein junger Straftäter darf nicht so behandelt werden, wie dieser Wärter den Häftling behandelt hat.“ Er kündigte Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen an.
Regierung soll seit Jahren Bescheid gewusst haben
Die Regierung will die betroffene und vier weitere Jugendstrafanstalten künftig unter polizeiliche Aufsicht stellen. Diese Entscheidung soll in Kürze im ungarischen Amtsblatt veröffentlicht werden. Man erhoffe sich dadurch ein Ende der Misshandlungen, erklärte der Leiter der ungarischen Staatskanzlei Gergely Gulyás.
Magyar jedoch wirft der Regierung vor, seit Jahren über die Zustände Bescheid zu wissen, ohne zu handeln. Er verweist auf den oben genannten offiziellen Bericht aus dem Jahr 2021, der mehr als 3.300 Fälle von körperlicher und psychischer Misshandlung in Kinderschutzeinrichtungen dokumentiert. Das Innenministerium hat inzwischen die Echtheit bestätigt und eingeräumt, dass die Regierung damals vollständig informiert war
Magyar, Vater dreier Kinder und ehemaliger Fidesz-Unterstützer, präsentierte sich bei der Demonstration demonstrativ nicht als Politiker, sondern als besorgter Bürger. Er beschuldigte die Regierung, Kinder in staatlicher Obhut geschlagen, gedemütigt, sexuell missbraucht und ausgehungert zu haben, und kritisierte, dass viele dieser Taten vor laufenden Überwachungskameras geschahen, ohne dass Konsequenzen folgten.
Für die Zeit nach der Wahl kündigte Magyar ein umfassendes Reformprogramm an: Ein unbegrenztes Budget für den Kinderschutz, unabhängige Untersuchungen, eine Sonderstaatsanwaltschaft, anonymisierten Aktenzugang und Sozialarbeiter an jeder Schule. Zudem versprach er eine sofortige Gehaltserhöhung von 25 Prozent für Mitarbeiter:innen in diesem Bereich.
Doppelstandards im Kinderschutz
Dies ist nicht das erste Mal, dass die Orbán-Regierung wegen Kinderschutzfragen und ihren Doppelstandards massiv unter Druck gerät. Unter dem Deckmantel des angeblichen Kinderschutzes ließ Orbán LGBTIQ+ Veranstaltungen verbieten – die letztjährige Budapest Pride wurde dennoch zur größten aller Zeiten. 2021 ließ Orbán zudem ein Referendum durchführen, mit dem Einschnitte bei den Grundrechten sexueller Minderheiten legitimiert werden sollten.
Massenproteste gab es auch Anfang 2023, nachdem die damalige Präsidentin Katalin Novák einen Mann begnadigt hatte, der sexuellen Missbrauch in einem Waisenhaus vertuschen wollte. Novák und die damalige Fidesz-Justizministerin Judit Varga mussten zurücktreten, der Aufstieg Magyars begann.
Auf den Begnadigungsskandal und das damalige Versprechen der Regierung, mehr für den Schutz von Kindern zu tun, nahm Maygar nun bei seiner Protestrede kritisch Bezug. Magyar forderte Orbán neuerlich auf, Verantwortung für die systematischen Verfehlungen zu übernehmen. Den betroffenen Kindern versprach er, sie nicht im Stich zu lassen.
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