Martin Reeh über die deutschen Reaktion auf die Wahl in Frankreich: Deutschland sucht die Idioten
Wenn etwas richtig schiefläuft, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann alle anderen zu Idioten erklären, die nicht begreifen, wie großartig die eigenen Ideen sind. Und man kann darüber nachdenken, welchen eigenen Anteil man daran hat, dass die Sache zu scheitern droht.
Nach den Wahlen in Frankreich hat sich die deutsche Politik fast ohne Ausnahmen wie schon nach dem Syriza-Sieg, dem Brexit und der Wahl Donald Trumps auf die erste Erklärungsvariante eingeschworen: Von SPD über Grüne bis Union gibt es Glückwünsche für Macron und Erleichterung darüber, dass Le Pen im zweiten Wahlgang wohl verlieren wird. Dabei müsste es zu denken geben, dass die FN-Chefin in den Umfragen für die zweite Runde bei fast 40 Prozent liegt.
Der französische Soziologe Didier Eribon hat die Wahl des Front National als Akt „politischer Notwehr“ bezeichnet: als Protest der Arbeiter, nachdem die linken Parteien deren Interessen nicht mehr vertraten. Die 40 Prozent für den FN lassen sich nicht reduzieren, indem man seine Wähler als tumbe Rassisten beschimpft, sondern indem die Linke sich wieder die soziale Frage zu eigen macht. Macron, der gern nach jungen Franzosen sucht, die Millionär werden wollen, ist dafür der Falsche. Macron gegen Le Pen ist die Neuauflage von Clinton gegen Trump. Hier wie dort will die deutsche Öffentlichkeit nicht wahrhaben, dass es für die Bewohner des Rust Belt von Michigan oder Lothringen kaum Gründe gibt, Clinton oder Macron zu wählen.
Eribon hat erklärt, er werde sich im zweiten Wahlgang enthalten, wenn nur Macron und Le Pen zur Wahl stünden. Die beiden seien „Pole eines Systems“, weil die neoliberale Politik die Verelendung der Arbeiter in Kauf nehme und sie dem FN zutreibe. In Deutschland, wo man gern weiß, wie man im Ausland zu wählen hat, mag man das für falsch halten. Sicher ist aber: Eine EU, die darauf setzt, sich mit 60:40-Mehrheiten durchzumogeln, ist früher oder später am Ende.
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