Markus Tressel über Tourismuspolitik: Systemrelevante Branche

Die Reisebranche braucht dringend Soforthilfe. Die Bundesregierung versteht nicht, wie viel gerade in den Regionen auf dem Spiel steht.

Füsse hängen über eine Luftmatratze in den See, ein Segelboot und Berge im Hitnergrund

Ganz entspannt im Starnberger See abhängen Foto: Loop Delay/plainpicture

taz: Herr Tressel, wie erklären Sie dem Steuerzahler, dass die Tourismusbranche mit vielen Milliarden Euro aus Hilfs- und Absicherungsfonds unterstützt wird?

Markus Tressel: Die Tourismusbranche ist mit über drei Millionen Beschäftigten systemrelevant. Das sind vor allem Menschen, die in Reisebüros, bei Veranstaltern, in unseren touristischen Destinationen arbeiten, in der Hotellerie und Gastronomie. Wenn der Tourismusbranche nicht geholfen wird, werden wir viele Arbeitsplätze, aber auch viele Strukturen in den Regionen verlieren.

Dem Reisekonzern TUI und der Lufthansa wurde großzügige finanzielle staatliche Unterstützung gewährt.

Da besteht aus meiner Sicht ein krasses Missverhältnis zu den kleineren touristischen Betrieben: Die Bundesregierung hat der TUI schnell geholfen, mit einem Kredit von über 1,8 Milliarden Euro. Bei der Lufthansa sind es 9 Milliarden. Aber viele Kleine gehen leer aus. Doch es sind die kleinen Unternehmen – Reisebüros, Hotels, Gaststätten etc. –, die in den Kommunen vor Ort Steuern zahlen und Gewinne erwirtschaften. Deshalb muss den Kleinen genauso geholfen werden wie den Großen.

Markus Tressel ist seit 2017 Vorsitzender der Grünen im Saarland. Er ist Sprecher für Tourismuspolitik und ländliche Räume der Grünen-Bundestagsfraktion.

Mit dem Rettungspaket der Großen Koalition bekommen die kleinen und mittelständischen Unternehmen mit ihren drei Millionen Beschäftigten nun statt millionenschwerer Kredite Mehrwertsteuersenkung sowie Überbrückungshilfen. Warum sind Sie damit nicht zufrieden?

Dieses Paket ist maximal ein bisschen Hilfe für die Tourismuswirtschaft. Einige der Festlegungen kommen ganz sicher auch der Reisebranche zugute, wie etwa die Absenkung der Mehrwertsteuer. Ob allerdings das Programm für Überbrückungshilfen von Juni bis August den Besonderheiten der Touristik gerecht wird und Strukturen tatsächlich erhalten kann, wird auch von der konkreten Ausgestaltung abhängen. Man darf aber Zweifel haben, dass dieses Konjunkturpaket einem Rettungsfonds für die Tourismuswirtschaft gleichkommt.

Das war der Vorschlag Ihrer Partei, der Grünen?

Ja, um zu verhindern, dass viele kleine Betriebe auf der Strecke bleiben, muss ganz schnell ein Rettungsfonds aufgesetzt werden, um die Liquidität der Branche zu sichern: ein Rettungsfonds für die touristische Infrastruktur in Deutschland. Damit müssen wir die Betriebe über die schwierigen Monate bringen. Dazu gehören auch Betriebe wie die Jugendherbergen, die jetzt in einer existenziellen Notlage sind. Jugendherbergen sind komplett aus der Unterstützung herausgefallen, weil sie keine wirtschaftlichen Unternehmen sind, auch die Schullandheime sind komplett herausgefallen. Und natürlich müssen wir den Reisebüros helfen.

Sie waren ein Gegner der Gutscheinlösung, die besagt, dass bereits gebuchte Reisen vom Veranstalter an den Kunden nicht zurückgezahlt, sondern mit einem Gutschein später eingelöst werden können.

Ich war ein Gegner des Zwangsgutscheins, weil ich glaube, er wäre ein Schuss ins Knie der Branche gewesen. Man kann seine Kunden aus meiner Sicht nicht verpflichten, einer ganzen Branche einen zinslosen Kredit zu geben. Dann noch mit einer Laufzeit von de facto zwei Jahren. In einer außerordentlichen Notsituation wie jetzt ist es Aufgabe des Staates, die Strukturen zu sichern, mit einem Darlehen für die notwendige Liquidität zu sorgen. Das kann doch nicht die Aufgabe des arglosen Verbrauchers sein, der jetzt sein Geld womöglich auch gerade sehr dringend braucht.

Wird es eine Insolvenzwelle geben?

Es gibt keine belastbaren Zahlen zu Insolvenzen, aber ich weiß, dass es schon einige kleinere und mittlere Veranstalter getroffen hat, die keine Reserven hatten und auf absehbare Zeit keine Einkünfte haben werden. Ich vermute, dass, wenn es keine wirklich wirksame Hilfe gibt, wir eine regelrechte Insolvenzwelle erleben werden. Auch überwiegend gesunde Unternehmen werden vom Markt verschwinden, die regionale Strukturen mitnehmen werden, die wir nicht so schnell wieder aufbauen können.

Wird Tourismus vonseiten der Bundesregierung nicht wertgeschätzt?

Sie versteht einfach nicht, dass hier ganze Strukturen wegbrechen werden, wenn nicht in absehbarer Zeit etwas passiert. Die Branche braucht sofort Hilfe, sonst wird es auch in unseren Destinationen vor Ort zu einem ungeahnten Sterben von Unternehmen kommen. Diese Unternehmen bringen eine enorme regionale Wertschöpfung. Die Bundesregierung steht völlig hilflos vor dieser Situation, während die Automobilindustrie schon den zweiten Gipfel während dieser Krise bekommen hat. Die Reisebranche hingegen bekommt nicht einmal einen Termin bei der Kanzlerin. Das ist hammerhart!

Lobbyismus machen also nur die Großen in der Tourismusindustrie?

Die Lobbyarbeit bestimmen aus meiner Sicht hauptsächlich diejenigen, die für die großen, kapitalkräftigen Konzerne sprechen. Die Reisebranche ist ja insgesamt sehr heterogen. In der Automobilbranche ist das ein Stück einfacher, da gibt es den VDA (Verband der Automobilindustrie) und die Präsidentin des VDA nimmt für sich in Anspruch, für die ganze Branche zu sprechen. In der Reisebranche ist das anders. Es gibt die großen Outgoing-Unternehmen wie die TUI oder FTI, und die haben oft ganz andere Notwendigkeiten als ein kleiner Reiseveranstalter, der spezialisiert ist auf Wander- oder Fahrradreisen. Ich glaube, da muss man mehr das Gemeinsame herausstellen.

Wie soll das gehen?

Man muss ein gemeinsames Dach suchen und gemeinsame Interessen herausarbeiten. Niemand sieht, wie wichtig die Reisebranche für dieses Land ist.

Tourismus als politisches Randthema?

Ja. Das liegt in Deutschland zum einen an der zerklüfteten Verbandsstruktur, das andere Problem ist mitunter der Föderalismus. Tourismus ist Ländersache und den vertritt immer ein Landesminister irgendwie mit. So ein großes Reiseland wie Deutschland hat nur einen Tourismusbeauftragten, der noch drei andere Themen bearbeitet. Man bräuchte mindestens einen Staatsminister für Tourismus, der ernsthaft Tourismuspolitik machen kann. Frankreich investiert jetzt 18 Milliarden Euro in den Wiederaufbau der Tourismuswirtschaft. Der französische Premierminister stellt sich hin und sagt, Tourismus hat für uns nationale Priorität. Welche Diskrepanz zu Deutschland!

Wie sehen Sie die Zukunft des Tourismus?

In den nächsten eineinhalb Jahren werden vielleicht eher Ferienwohnungen gebucht werden, Wohnmobile und das eigene Auto haben möglicherweise Konjunktur. Man verreist im eigenen Land oder in den umliegenden Ländern. Es wird in diesem Sommer eine Renaissance heimischer Destinationen geben. Deshalb müssen wir versuchen, die Touristen gut über das Land zu verteilen. Dazu brauchen wir überregional eine bessere Zusammenarbeit und gezieltes Marketing. Mit „entdeckedeutschland.de“ haben die Destinationsmarketing-Organisationen gut vorgelegt.

Wo verbringen Sie den Sommerurlaub?

Ich bin traditioneller Wohnmobilfahrer. Das ist für mich die perfekte Art, mit Familie und Kindern zu verreisen. Es ist auch gut, um Distanz zu wahren. Wir wollten eigentlich nach Frankreich in die Dordogne. Ich fürchte, das wird so nicht funktionieren, deshalb haben wir uns jetzt die Rhön als Reiseziel ausgeguckt.

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