Mannheimer Ausstellung über Prostitution: Von wegen „Sexarbeit“
Wer sich auf die Fotos der Ausstellung „gesichtslos – Frauen in der Prostitution“ einlässt, sieht: Für die meisten Frauen ist das Gewerbe Gewalt.
Wie zur Hölle kann es sein, dass so was möglich ist? Wie sehr muss eine Gesellschaft Frauen hassen, dass sie das zulässt, wegschaut oder sogar befürwortet? Wie kann man das beenden? Nach dem Besuch der Fotoausstellung „gesichtslos – Frauen in der Prostitution“, die noch bis zum 20. Februar 2022 im Museum Weltkulturen der Reiss-Engelhorn Museen in Mannheim zu sehen ist, überschlagen sich viele Fragen im Kopf. Denn eines wird klar, wenn man vor den Fotografien aus dem Alltag von zehn Prostituierten steht: Für die allermeisten ist Prostitution keine ganz normale Arbeit.
Empfohlener externer Inhalt
Neben den selbstbestimmten „Sexarbeiter:innen“ mit Bildungshintergrund, die sich gut verständigen können und Alternativen haben, besitzt laut Statistischem Bundesamt nur ein Fünftel der vor Corona 40.400 gemeldeten Prostituierten in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft. 80 Prozent stammen überwiegend aus Bulgarien und Rumänien, haben keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und werden so oftmals von Mittelsmännern abhängig, die sie zu Sexsklavinnen machen.
Um diese Frauen, und auch die, die jenseits von fassbaren Zahlen illegal Sex verkaufen müssen, geht es in der Ausstellung in Mannheim: Auch um dem öffentlichen Bild entgegenzuwirken, das vor allem die französische Malerei zwischen Zweitem Kaiserreich und Belle Époche vor und nach 1900 bis heute geprägt hat: der Blick von Männern auf die Prostitution – die teilweise selbst mit Prostituierten verkehrten und von der „sündhaften“ Pariser Schattenwelt der „pierreuses“, also Straßenhuren, fasziniert waren. Bis heute dominiert dieser voyeuristische Blick die gesellschaftliche Wahrnehmung. Immer noch bebildern Medien die Nachricht über einen Mord an einer Prostituierten mit einem sexualisierten Frauenkörper. Sexkauf wird romantisiert und nicht als das darstellt, was er in den meisten Fällen ist: Gewalt. Körperliche Gewalt. Psychische Gewalt. Patriarchale Gewalt. Von Männern an Frauen. Jeden Tag. In Deutschland. Abertausendfach.
„Es gibt eine große Diskrepanz zwischen dem Bild, das die Gesellschaft von Prostitution hat, und der Lebensrealität in der Prostitution“, sagt Julia Wege, Gründerin von „Amalie“, der Beratungsstelle des Diakonischen Werks Mannheim für Frauen in der Prostitution. Seit 2013 hilft die Einrichtung Prostituierten in allen Lebenslagen, leistet kostenlose medizinische Versorgung und unterstützt beim Ausstieg.
Die Wahrheit zeigen
In Zusammenarbeit mit den Reiss-Engelhorn Museen initiierte „Amalie“ die Ausstellung daher von Beginn an mit dem Plan, Betroffene ins Projekt zu involvieren und Realitäten sichtbar zu machen, die gesellschaftlich verdrängt werden. Es sollte keine Ausstellung über sie, sondern mit ihnen werden. Alle Frauen auf den gezeigten Schwarzweißfotos des Fotografen Hyp Yerlikaya sind oder waren Besucherinnen in der Beratungsstelle.
Zunächst skeptisch, doch dann in immer größerer Zahl hätten sie sich am Projekt beteiligt. Weil sie gesehen haben, dass es darum gehe, einen unverstellten Blick auf das zu lenken, was ihnen jeden Tag widerfährt. „Bitte zeigt, wie es wirklich ist, zeigt die Wahrheit“, habe eine Mitwirkende gesagt, erzählt Wege, die sich als Professorin für Methoden der sozialen Arbeit seit über zehn Jahren kritisch mit dem Thema Prostitution auseinandersetzt und über biografische Verläufe von Frauen in der Prostitution promoviert hat.
Der Fotograf Yerlikaya begleitete für die Ausstellung zehn Prostituierte zwischen 2019 und 2021, insgesamt 1.800 Fotos durfte er von ihnen machen. Immer anonymisiert. Immer mit einer weißen Maske, die ihre unsichtbare Existenz in der Gesellschaft thematisiert und gleichzeitig ihre Identität schützt. Denn die meisten Frauen fühlen sich durch gesellschaftliche Diskriminierung und Ächtung „wie der letzte Dreck“ und hätten wahnsinnige Ängste, erkannt zu werden, erzählt Wege. 40 Fotos haben es am Ende in die Ausstellung geschafft.
Als international tätiger Künstler fotografierte Yerlikaya bereits 2012 Säureopfer in Bangladesch. Dank seiner großen Sensibilität für Thema und Protagonistinnen war er maßgeblich an Konzeption und Umsetzung der Schau beteiligt. Dass es gerade ein Mann ist, der die Fotos gemacht hat, verwundert, ist laut Wege neben seinem Einfühlungsvermögen aber auch einer „therapeutischen Wirkung“ des Projekts geschuldet: Die Frauen hätten gesehen, dass sie ihm vertrauen können, dass nicht jeder Mann negative Absichten hat.
Alltagssituationen
Auf der Grundlage von Interviews mit den Prostituierten, die in einem kleinen Vorführraum auch angehört werden können, erzählen die Fotografien von ihrem Alltag, ihren Ängsten, Traumata und Sehnsüchten. Jedem Bild in der Ausstellung ist ein Originalzitat einer Betroffenen zugeordnet, die es Besucher:innen erlaubt, das Gezeigte besser einzuordnen. Oft entfaltet das Foto seine volle Durchschlagskraft erst durch das Zitat.
Die Bilder zeigen Alltagssituationen von dem, was die Frauen jeden Tag zwischen Kundenwünschen, Arbeitsorten, Privatleben und Tagträumereien erleben: eine Frau in der Dusche; eine Frau, die eine Ultraschalluntersuchung bekommt; eine Frau, die mit einem kleinen Kind in der einen und einem Fahrrädchen in der anderen Hand, über die Straße läuft; eine Frau beim Beten in einer Kirche; eine Frau in Dessous, die sich das Gesicht wäscht; weißes Pulver auf einem Spiegel samt gerolltem Geldschein; groteskes Schuhwerk. Alle Bilder sind intim, ohne voyeuristisch oder sexualisiert zu sein.
Yerlikaya ist ein stiller Beobachter der Unsichtbaren, der hinter der Kamera selbst unsichtbar wird, der dokumentiert und dort, wo die Grenzen des Aussprechbaren oder Zeigbaren überschritten werden, auch inszeniert. Wie bei einem Bild, auf dem ein Zuhälter angedeutet ist, der eine Pistole unter der Jacke trägt. Mit den bildbegleitenden Zitaten neben den jugendfreien und damit auch für Schulklassen zugänglichen Fotografien wird etwa klar: Die Frau auf der Liege mit dem Ultraschallgerät auf dem Bauch ist schwanger von einem Freier. Denn „viele Männer möchten Sex ohne Kondom“, den die Frauen in ihrer Not zulassen, um mehr Geld zu verdienen.
Manche Frauen wollen dann in der Beratungsstelle „Amalie“ wissen: „Wie geht wegmachen?“ „Andere Frauen entscheiden sich dazu, das Kind zu bekommen, um eine Motivation zu haben, noch härter dafür zu kämpfen, die Prostitution endlich hinter sich lassen zu können“, erzählt Wege. „Denn sie wollen auf keinen Fall, dass das Kind irgendwas mit dieser Welt zu tun bekommt.“ Eine Welt voller Ekel, Wut und Selbsthass.
Profiteure der Verklärung
Mit „gesichtslos – Frauen in der Prostitution“ wird Unsichtbares sichtbar. Und zwar so, wie es wirklich ist. Ohne Klischees. Weit entfernt von der Fantasie, dass alle Frauen gern und gut von Prostitution leben. Vielmehr ist es an der Tagesordnung, dass sie Geld an ihre Familien in ihren Heimatländern oder Zuhälter abdrücken und selbst in prekären Verhältnissen leben müssen.
Doch hier haben einmal nicht die Profiteure der Verklärung dieses Elends die Macht über das Narrativ: klickgeile Medien, Freier, Bordellbetreiber:innen, Vermieter:innen von Stundenzimmern, Security-Firmen, Wäsche- und Reinigungsunternehmen, der Staat und das gute Gewissen der Gesellschaft im Allgemeinen. Sie alle haben ein Interesse daran, mitzubestimmen, welche Einblicke ins Milieu nach außen getragen werden. Sie alle möchten am liebsten nur die perfekt Deutsch sprechende, emanzipierte, studierte „Sexarbeiterin“ sehen, um sich die eigene Beteiligung an einem menschenverachtenden System nicht eingestehen zu müssen. Hätten es am liebsten, dass die Diskussion über Prostitution in Deutschland vollständig vom positiven Bild der freiwilligen „Sexarbeit“ überlagert wird, das eine Handvoll Repräsentant:innen medienwirksam erschafft. Die Zwangsprostitution, wie sie die Ausstellung im Museum Weltkulturen zeigt, bleibt weitestgehend unbeachtet. Wie auch? Wenn die Betroffenen nicht einmal ihr Gesicht zeigen, geschweige denn in Talkshows reden können und somit unsichtbar bleiben.
Diesen kollektiven Verdrängungsmechanismus will „gesichtslos – Frauen in der Prostitution“ stören. Das Elend sichtbar machen. Auch mit dem gleichnamigen Begleitbuch und Ausstellungskatalog, der Fakten und Analysen liefert. Niemand soll mehr sagen können: „Ja, hätten wir das mal alles gewusst.“ Alle sollen sehen, dass hier ganz gehörig was schiefläuft und das „Prostituiertenschutzgesetz“ von 2017 samt falsch verstandenem Liberalismus gescheitert ist. Obwohl Prostitution seit 2002 legal ist, hat es die Situation der meisten Menschen in der Prostitution nicht verbessert, weil Staat und Gesellschaft bis heute von der deutschen, „selbstbestimmten Hure“ ausgehen, die sich ihren Job freiwillig ausgesucht hat.
Sie verkennen schlichtweg, dass über 80 Prozent der Prostituierten marginalisierte, vulnerable Migrantinnen sind, die mit zuhälterischen Partnern oder Familienmitgliedern ihre Heimat für ein vermeintlich besseres Leben verlassen haben, in emotionale und ökonomische Zwangslagen gebracht und sexuell ausgebeutet werden. Vor allem in der Coronakrise wurde deutlich, dass viele Herkunftsfamilien von den Einnahmen der Zwangsprostituierten abhängig sind. Die Hälfte hat Depressionen, wurde während der ‚Arbeit‘ vergewaltigt, viele haben Suizidgedanken, fast 70 Prozent leiden unter denselben posttraumatischen Belastungsstörungen wie Soldatinnen nach Kriegseinsätzen.
Alles seit der internationalen Studie von Melissa Farley bekannt. Alles im Begleitbuch nachlesbar. Alles möglich trotz „Prostituiertenschutzgesetz“. Und doch sind es am Ende nicht die Freier und Möglichmacher:innen des Systems Prostitution, die sich schämen. Es sind immer die Frauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil