Es brummen die Motoren und Bienen

Den Blick auf die eigene Region verändern will man auf der Manifesta 15. In und um Barcelona steht bei dem Kunstfest deshalb die Infrastruktur Kataloniens im Fokus

Von Beate Scheder

Der Sturm kam wie bestellt. Am Tag, an dem der Großteil der internationalen Presse und des Fachpublikums zur Vorbesichtigung der europäischen Wanderbiennale Manifesta anreiste, die in diesem Jahr in Barcelona und der Metropolregion stattfindet, sorgte ein Unwetter für Verspätungen und Ausfälle am Flughafen Barcelonas. Immer wieder passiert so etwas. Immer öfter. Das, was man als Extremwetter bezeichnet, Starkregen mit Sturmböen eben, genauso aber auch lange Dürreperioden als Folgen des Klimawandels, gehört mittlerweile zur spanischen Realität.

Ein ganzes Konglomerat sozioökologischer Konfliktfelder hängt ganz oder teilweise damit zusammen. Zuletzt war Barcelona vor allem wegen der Proteste gegen den Massentourismus, unter dem die katalanische Stadt ächzt, in den Medien. Von Demonstrierenden wurde da berichtet, die mit Wasserpistolen auf Ur­lau­be­r*in­nen zielten, von einem geplanten Verbot von Ferienwohnungen. Verrückt erscheint es da zunächst, dass mit der Manifesta noch eine weitere Großveranstaltung in der Region stattfindet, die poten­ziell Gäste von auswärts anlockt. Doch um diese, das sei an dieser Stelle gleich verraten, geht es der Manifesta gar nicht, zumindest nicht primär. Auf den Kunstjetset, der für große Events die Welt bereist – das macht diese Ausgabe noch deutlicher als die vorherigen – ist sie nicht ausgerichtet. Vielmehr soll vor Ort etwas angestoßen werden.

Die Manifesta wurde Anfang der 1990er Jahre von Hedwig ­Fijen gegründet, die noch heute deren Direktorin ist, als Reaktion auf all die sozialen, kulturellen und politischen Fragestellungen, die sich in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges stellten. Die erste Ausgabe fand im Jahr 1996 in Rotterdam statt. Vor zwei Jahren war Prishtina dran, 2026 geht es ins Ruhrgebiet.

Die Manifesta ist 2024 eine der Superlative. Sie bespielt nicht nur eine, sondern gleich 12 Städte, eine Fläche von 3.000 Quadratkilometern, bewohnt von 5,1 Millionen Menschen. Zu Gesicht bekommt man dabei allerdings nichts von dem, was Barcelona sonst touristisch vermarktet. Dezentralisierung ist das große Stichwort der Manifesta. Sie wollten „auf Europa schauen, durch die Augen dieser Region“, so formuliert es ­Fijen, weil die Fragestellungen, die dort verhandelt werden, freilich auch andere Regionen umtreiben. Einen Inkubator nennt sie die Manifesta, die Biennale soll Entwicklungen antreiben, „periphere Gebiete zum Zentrum des ökosozialen Wandels machen“.

Untergliedert wurde das Gebiet in drei Themenschwerpunkte, die jeweils auch geografisch ein Cluster bilden. Als Hauptquartier dient das ehemalige Verlagshaus Gustavo Gili, der einzige Standort in Barcelona selbst. Ein modernistischer Bau, versteckt in einem Innenhof, erbaut in den 1950er Jahren. Seit 2016 stand er leer, jetzt soll er auch in Zukunft kulturelle Veranstaltungen beherbergen.

Der Ausbau des Flughafens gefährdet das Gleichgewicht zwischen Meer und Festland

Bequem ist es nicht von A nach B, C und D zu kommen. Eben das ist einer der Punkte, auf die aufmerksam gemacht werden soll: Der Verkehr ist wie in vielen Regionen auf das Zentrum, auf Barcelona ausgerichtet. Was fehlt, ist ein öffentliches Nahverkehrsnetz, das die umliegenden Städte direkt unter sich miteinander verbindet. Im Handbuch zur Manifesta werden zwar Touren vorgeschlagen und Verkehrsmittel aufgeführt. Als Kurztrip alle 12 Standorte abzufahren, wäre jedoch viel zu aufwendig. Gedacht ist vielmehr, dass die Menschen aus der Region innerhalb der 12 Wochen nach und nach einzelne oder auch alle Orte besuchen. Und dabei feststellen, dass sich interessante Orte gleich nebenan befinden: historische Kulturstätten, Überreste römischer Siedlungen aus dem 5. Jahrhundert, ein Kloster aus dem 9. Jahrhundert, kleine Museen, Fabrikhallen aus dem späten 19. Jahrhundert.

Einige der Orte sind zum ersten Mal offen für Publikum, so auch der schönste von ihnen, die Casa Gomis. Errichtet nach Entwürfen von Antoni Bonet Castellana in den 1950er Jahren für Ricardo Gomis Serdañons und seine Frau Inés Bertrand Mata in El Prat de Llobregat: Wellenförmige Dächer, flaschengrüne Kacheln, strukturierte Elemente aus Backsteinziegeln und bunten Glasbausteinen mit einem parkähnlichen Garten samt Pool drumherum, hinter einem Zaun ist gleich der Strand – ein architektonisches Juwel, noch immer in Familienbesitz. Bemerkenswert ist auch der Sound, wenn man sich diesem annähert: Die Zikaden zirpen, das Meer rauscht und über alles brummen in irrer Lautstärke die Motoren der Flieger des nahe gelegenen Flughafens hinweg. Um einiges weiter weg war der noch, als die Casa Gomis gebaut wurde, doch er rückte immer näher und wird es weiter tun, wenn der Ausbau des Flughafens Barcelona-El Prat wie geplant umgesetzt wird. Eine Gefahr wäre das nicht nur für die Casa Gomis, sondern auch für das für das Gleichgewicht zwischen Meer und Festland immens wichtige Naturschutzgebiet La Ricarda, auf dem es sich befindet.

Auch das spielt mit hinein in die Auswahl der Kunstwerke vor Ort, unter denen auch solche zu sehen sind, die Gomis Ser­dañons und Bertrand Mata in Auftrag gegeben hatten. Die Skulpturen des katalanischen Autodidakten Moisès Villèlia im Garten etwa oder eine wandfüllende textile Arbeit von Magda Bolumor Chertó platziert hinterm Esstisch, die dort auch davon erzählt, wie die Casa Gomis in der Zeit der Franco-Diktatur Zufluchtsort für Künst­le­r*in­nen der Avantgarde war. Historische Arbeiten mischen sich unter die der zeitgenössischen Künst­le­r*in­nen, unter denen viele wie überall in der Manifesta einen persönlichen Bezug zu Katalonien haben oder zumindest länger dort recherchiert haben.

An anderen Orten der Manifesta erscheint die Kunst indes leider oft eher Mittel zum Zweck zu sein, um diese eben mit irgendwas bespielen zu können. Verpasste Chancen sind das. Zusammengewürfelt und leicht esoterisch erscheint etwa die Präsentation im Kloster von San Cugat, Hauptausstellungsort des Clusters „Cure and Care“. Die Schwächen des basisdemokratischen kuratorischen Prinzips, das die Manifesta hochhält, zeigen sich dort besonders deutlich. Schade ist es, wenn man die weiten Wege zwischen den Ausstellungsorten auf sich nimmt und dann die Kunst enttäuscht. Wichtiger erschien den Veranstaltenden offenbar, überhaupt zu zeigen, dass da etwas gehen kann. Zu beweisen, dass Kultur nicht zwingend in der katalanischen Hauptstadt stattfinden muss.

Der Hauptort der Manifesta befindet sich nur eine kurze Fahrt mit der Tram davon entfernt, in einem in den 1970ern gebauten ehemaligen Heizkraftwerk in Sant Adrià de Besòs, einem fast schon kathedralenartigen, brutalistischen Betonkomplex mit drei charakterischen Kaminen, „Three Chimneys“ genannt. Dort sollte man hingehen, wenn man nur wenig Zeit hat. Allein schon wegen des Ortes. Der Brite Mike Nelson habe diesem „skulpturalen Monument“ gar nicht erst etwas hinzufügen wollen, heißt es. Stattdessen errichtete er in Sichtweite, nah beim Strand eine Hütte aus Schutt, als Denkmal für alle, die mal in dem Kraftwerk arbeiteten. Drinnen in der „Sagrada Familia de l’Electricitat“ hat der US-amerikanische Künstler Asad Raza ganz oben die Fensterscheiben herausgenommen und lange weiße Stoffbahnen in die riesige Halle gehängt. Sie tanzen im Wind, der vom Mittelmeer über das Land zieht, poetisch, schön und vieldeutig ist das. Die portugiesisch-deutsche Künstlerin Maja Escher hat ihre Stoffe mit Schlamm und Lehm, den sie vor Ort sammelte, eingefärbt und mit aktivistischen Slogans und Gedichten beschriftet. Der Angolaner Kiluanji Kia Henda beschwört in seiner Installation die Selbstheilungskräfte der Natur. „The Frankenstein Tree“, der Titel passt, aus Holzabfall, Ästen und den Überbleibseln von Bäumen aus Waldbrandgebieten im etwa 40 Kilometer entfernten El Pont de Vilomara hat er seinen Wald zusammengesteckt. Eine Archivausstellung erzählt die Geschichte des Kraftwerks. Viel zu entdecken, viel zu erfahren gibt es auf drei Stockwerken.

Ein ehemaliges Heizkraftwerk, gebaut in den 1970ern, ist Hauptstandort der Manifesta 15: „The Three Chimneys“ in Sant Adrià de BesòsFoto: © Manifesta 15 Barcelona Metropolitana/Arnau Rovira

Wird das Konzept aufgehen? Wie die katalanische Bevölkerung mit der Kunst interagiert, kann man im Kleinen während der Vorbesichtigungstage am Marktplatz der 60.000-Einwohner*innenstadt Granollers beobachten. Dort steht seit dem 16. Jahrhundert „La Porxada“, ursprünglich gebaut für den Tausch von Getreide. Während des Bürgerkrieges zerstörte die italienische Luftwaffe 1938 Teile des Gebäudes, Hunderte Zi­vi­lis­t*in­nen starben. Der französische Soundkünstler Félix Blume hat dort jetzt 500 kleine Lautsprecher aufgehängt. Jeder einzelne gibt das Summen einer Biene wieder. Steht man darunter, fühlt man sich, als sei man Teil des Schwarms. Die Arbeit soll sowohl an die Geschichte des Ortes, wie an die Bedeutung der Bienen für das Ökosystem erinnern. Aufmerksamkeit bekommt sie definitiv: Pas­san­t*in­nen bleiben minutenlang stehen, lauschen, gehen ein paar Schritte weiter, lauschen wieder.

Und im Großen? Wird die Manifesta verändern, wie die Menschen vor Ort ihre Region wahrnehmen? Oder gar dazu beitragen, konkrete Dinge zu verändern? Erst im Nachgang wird man das beantworten können. Die Manifesta führt stets Befragungen bei Be­su­chenden durch. Prishtina gilt aufgrund solcher Ergebnisse als Erfolg.

„Manifesta15 Barcelona Metropolitana“. Bis 24. November

Recherchen zu diesem Artikel wurden von der Manifesta 15 unterstützt.